„Terror: die kalkulierte Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit Gewalt"

Noam Chomsky erhielt den Erich-Fromm-Preis 2010 in Stuttgart

Noam Chomsky (* 7. Dezember 1928 in Philadelphia, Pennsylvania, USA) ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er gilt als einer der einflussreichsten linken politischen Intellektuellen. Dem Arts and Humani­ties Citation Index von 1992 zufolge ist Chomsky im Zeitraum zwischen 1980 und 1992 die am häufigsten zitierte lebende Person der Welt gewesen. Chomsky ist Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW) und versteht sich als Anarchist. Im März 2010 wurde ihm in Stuttgart der Erich-Fromm-Preis verliehen. Für die graswurzelrevolution nahm Wolfgang Haug an der Veranstaltung teil und traf sich mit seinem alten Freund und Genossen. (GWR-Red.)

„Für sein Lebenswerk als Wissenschaftler, vor allem aber für sein unbeirrtes Eintreten für ein humanistisches und demokratisches Denken" verlieh die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft den von ungenannten Spendern mit 10.000 Euro dotierten Erich-Fromm-Preis 2010 an Noam Chomsky.

Deutlicher wurde der Preistext von Rainer Funk und Jürgen Hardeck im Anschluss: „Wie Erich Fromm, so zeichnet Noam Chomsky die Fähigkeit aus, die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit unabhängig von Machtinteressen und unbeeinflusst von einer manipulierten öffentlichen Meinung zu erkennen und auszusprechen... Die oft unbequeme Wahrheit seiner Analysen lässt jene hoffen, die das kritische Denken noch nicht verlernt haben." 

Diese Erwartungshaltung sollte Chomsky in seiner späteren Preisrede „The evil scourge of terrorism: reality, construction, remedy" („Die böse Geißel des Terrorismus: Realität, Konstruktion, Abhilfe") erfüllen, dass dem anwesenden US-Konsul sicherlich die Ohren ge­klungen haben. Offensichtlich unsicher, ob sie die Rede honorieren oder kritisieren sollte, titelte die Stuttgarter Zeitung am 25. März „Immer noch der alte Weltverbesserer". Dagegen traf der Radiojourna­list Peter Zudeick bei der Preisverleihung in seiner spritzigen Rede auf Chomsky den Nagel auf den Kopf, als er meinte: „Weltverbesserer sind mir lieber, von den Weltverschlechterern gibt es eh viel zu viele." Während Zudeick den Part übernahm, Chomsky in seiner Wirkung als Linguist und politischer Aktivist zu würdigen, erfüllte Prof. Lawrence J. Fried­man von der Harvard Universi­ty als zukünftiger Fromm-Biograph die Aufgabe, einen Bezug Chomskys zu Fromm herzustellen. Konstantin Wecker, zusammen mit Eugen Drewer­mann im Jahr 2007 selbst Fromm-Preis-Träger, gelang es in den jeweiligen Redepausen, der Veranstaltung einen lebendigen Charakter zu verleihen und nebenbei Spaß zu verbreiten.

Zu kritisieren ist jedoch der zeitliche Ablauf, der dem inzwi­schen 81-jährigen Preisträger zugemutet wurde. Ankunft von Boston in Frankfurt am 23. März frühmorgens, Weiterfahrt mit dem Zug nach Stuttgart, Ausruhen im Hotel, Pressekonferenz um 16 Uhr im Stuttgarter Landtagsgebäude, Preisverlei­hung ab 18 Uhr im Weißen Saal des Neuen Schlosses, Restaurant ab 21 Uhr, am Folgetag Ver­anstaltungsreden um 10 Uhr in der Stuttgarter Universität und am Nachmittag in der Mainzer Universität. Rückflug nach Boston von Frankfurt am 24. März. Viel Zeit für ein persönliches Gespräch blieb da natürlich nicht und Noam war sichtlich überanstrengt. Seine Befürchtung zu Anfang: „Vor 30 Jahren hätte ich so ein Programm gut bewältigt, aber heute...?", und sein Resümee, nachdem er wieder nach Boston zurückgekehrt war: „Very rushed. Tuesday was a hard day. Had­n't gotten any sleep of course, and plunged right into a lot of activities."

„Obamas Wahlkampagne? Perfektes Marketing, besser als die Apple Promotion"

Die Pressekonferenz, an der be­reits der Laudator Dr. Lawrence Friedman und Konstantin Wecker als musikalischer Laudator beteiligt waren, war zwar mit knapp 30 Personen gut bestückt, doch die Fragen stellten eher fünf, sechs, so dass für die graswurzelrevolution erfreulich viel Raum blieb.

Auf die Frage, wie Chomsky Deutschlands Rolle in der Weltpolitik sieht, holte Noam wie gewohnt weit aus: Er betonte zunächst Deutschlands wichtige wirtschaftliche Rolle als Ex­portnation gleichrangig mit China. Politisch sieht er Deutschland abhängig von der US-Politik. Die letzte von den USA unabhängige Entscheidung fand sich in der Ablehnung des Irak-Kriegs und die hatte in den USA sofort die Rumsfeld-Unterscheidung in das gute „neue Europa" (Polen etc.) und das schlechte „alte Europa" (Deutschland und Frankreich) zur Folge, dass, wie wir ja wissen, in der lächerlichen Umbenennung der Pom­mes frites von  „French fries" in „Freedom fries" gipfelte. Einen Grund für Deutschlands Haltung sah er darin, dass die deutsche Regierung der Mehr­heitsmeinung in der Bevölkerung nicht widersprechen wollte. Er verglich dies mit der Türkei, wo sich 95% der Bevölkerung gegen einen Angriff auf den Irak ausgesprochen hätten, was zur kriegsablehnenden Haltung der türkischen Regierung führte.

Für die USA, so Chomsky, stellt eine unabhängige Europa-Politik, getragen von Deutschland und Frankreich, eine Gefahr dar, der jedoch frühzeitig mit der Ausdehnung der NATO begegnet wurde. Im Augenblick des Mauerfalls verlor die NATO ihre ursprüngliche Bestimmung, Gorbatschow hatte Versprechungen erhalten, dass ein wie­dervereinigtes Deutschland nicht automatisch die NATO-Grenze nach Osten verschiebt; diese Versprechungen wurden jedoch schnell vergessen.

Stattdessen wurde die NATO mit einer neuen Bestimmung versehen und ausgedehnt. Ihre Aufgabe besteht seitdem darin, das Welt-Energie-System zu kontrollieren, das auch die Sicherung der Pipelines umfasst und gleichzeitig den US-Einfluss nicht nur auf Europa weiter festigt.

Auf die Frage, ob sich durch Obamas Wahl nicht die Haltung gegenüber Europa wieder verändert habe, meinte Noam, geändert habe sich lediglich die Art und Weise, wie die Botschaft rüber gebracht wird. Schon die Wahl Obamas habe dies deutlich gemacht, es sei die bislang beste „marketing cam­paign" gewesen, besser als die von Apple. Die Regierung Geo­rge W. Bush sei arrogant gewesen, mit der Haltung, „ihr tut, was wir sagen", Obama behandelt die Europäer dagegen als Partner und „die lieben das". Wenn es aber darauf ankommt, vergleicht er Obama mit John F. Kennedy, der in der Kuba-Krise 1962 die britische Regierung noch nicht mal informiert habe, dass die russischen Raketen auf Großbritannien gerichtet waren.

Auf die Nachfrage, ob denn auch Obamas Politik in Chom­skys Augen „staatsterrori­sti­sche Züge" trägt, sieht Noam nur leichte Veränderungen und deutet an, dass solche Änderungen auch schon in der zweiten Amtsperiode Bushs zu beobachten waren. Die erste Periode sei „gewalttätig, arrogant und desaströs" gewesen, die zweite Amtsperiode „weniger unterdrückerisch, weniger arrogant, weniger aggressiv". Obama setze diese Politik aus der zweiten Amtsperiode fort und deshalb sieht Noam keinen fundamentalen Unterschied und keinen Politikwechsel. Dies führte zwangsläufig zu Enttäuschungen und so ist es kein Unfall, dass in der einstigen de­mokratischen Kennedy-Hochburg Massachusetts die Nachwahl für einen Senatssitz erstmalig von einem Republikaner gewonnen wurde. Die demokratischen und gewerkschaftlich-organisierten WählerInnen blieben entweder enttäuscht der Wahl fern oder stimmten sogar für den Republikaner.

Die Generalstreiks in Griechenland gegen die rigiden Sparmaßnahmen der Regierung führten zu der Frage, ob denn den Gewerkschaften in Zukunft noch eine wichtige gesell­schaftsverändernde Rolle zugetraut werden kann.

In seiner Antwort unterschied Noam zunächst die unterschiedlichen Ausprägungen von Gewerkschaften am Beispiel der US- und der kanadischen Gewerkschaften. Während er die US-Gewerkschaften als Gewerkschaften charakterisierte, die auf die Firmen bezogen organisieren und damit Einzelinte­ressen vertreten, sieht er die kanadischen Gewerkschaften dem Gesamtwohl verpflichtet und damit unabhängiger.

Er nannte zwei Beispiele für die Anfälligkeit der US-Gewerkschaften: Unter Ronald Reagan begann eine Propaganda für das „gemeinsame Interesse" von ArbeiterInnen mit ihren Firmen, im Anschluss daran wurden die aktiven Gewerkschaf­terInnen von den Firmen flä­chendeckend entlassen. Der Klassenkampf fand statt, aller­dings von oben nach unten.

Im zweiten Beispiel nannte er die Gesundheitsreform. Während die kanadischen Gewerkschaften diese Reformen in den 50er Jahren als Anliegen der Gesamtbevölkerung nach dem Solidaritätsprinzip für ganz Kanada durchsetzen konnten, verlangten die US-Gewerkschaften diese Reformen immer nur für ihren Zuständigkeitsbereich in den Betrieben und schufen letztlich Inseln für Besserver­dienende.

Heute sind die Bedingungen noch schwieriger geworden, die zunehmende Bedeutung des finanziellen Sektors in der Weltwirtschaft erschwert eine wirksame Gewerkschaftsarbeit.

Während dieser Sektor in den 70er Jahren noch 3% des Geldumsatzes ausgemacht habe, sind es heute bereits 30%, die wesentlich auf der Verlagerung der Produktion und damit auf der Ausbeutung der ArbeiterIn­nen beispielsweise in China und Mexiko und der Arbeitslosigkeit in den Industrieländern wie den USA basieren. Weltwirtschaftliche Entscheidungen kommen derzeit immer nur den Banken zugute, die davon profitieren; als Beispiel nennt er die dringliche Erneuerung des US-Schienennetzes für Schnellgeschwindigkeitszüge. Der Auftrag ging nach Spanien, das z.T. in Mexiko billig produzieren lässt, was zur Folge hat, dass US-Firmen geschlossen werden müssen, das Geld abfließt und den Banken zugute kommt. Eine Antwort der Gewerkschaften in dieser Situation müsste seiner Ansicht nach darin bestehen, das Bewusstsein zu schaffen, Fabriken zu übernehmen, bevor sie geschlossen und abgebaut werden.

Stärker als von den Gewerkschaften wurde in den 60er und 70er Jahren der Protest gegen den Vietnamkrieg wesentlich von der Bürgerbewegung getragen; deshalb lag die Frage nahe, ob es heute eine neue Bürgerbewegung in den USA gegen die Globalisierung gibt. Diese Bewegung gibt es, sie ist nach Noams Ansicht, was die Zahl ihrer AktivistInnen anbetrifft, sogar deutlich größer als die Bewegung in den 60er und 70er Jahren. Allerdings sind die AktivistInnen atomisiert; er verbringe die meiste Zeit in den USA damit, über Vortragsver­anstaltungen die Menschen zusammenzubringen. Menschen, die das gleiche Anliegen haben, oft die gleichen Aktivitäten entwickeln, aber nichts voneinander wissen. Natürlich sei es schon in den 20er Jahren ein erklärtes Herr­schaftsziel gewesen, die Menschen auf oberflächlichen Konsum hin zu orientieren, ihre Solidarität zu unterminieren und sie darüber zu kontrollieren.

Aber als Reaktion auf die 60er und 70er Jahre sei - nicht nur in den USA, auch in den Sozialdemokratien - die Haltung entstanden, dass die Länder zu demokratisch würden. Als Beispiel für eine staatliche Reak­tionsmöglichkeit dient ihm die Zerstörung des kalifornischen Bildungssystems, das früher frei zugänglich war und heute viel Geld kostet. In diesem Zusammenhang erinnert er an die Tatsache, dass die Public Relation Industrie in den damals führenden Ländern für die Meinungsfreiheit, den USA und GB, entwickelt wurde, bevor sie von der Nazi-Diktatur übernommen und erfolgreich genutzt wurde. Die Mechanismen der Propaganda und Mei­nungskontrolle sind deshalb nicht neu, aber die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten 30 Jahren, die zu einer Ato­misierung der Menschen und damit des Widerstands geführt hat, erleichtert ihre Wirksamkeit.

Dass eine Chomsky-Rezeption nicht immer einfach ist, bewies unfreiwillig auch die Laudatio von Peter Zudeick bei der Preisverleihung, als dieser meinte, Noam habe zu den Terroranschlägen auf das World Trade Center gesagt, dass die Anschläge quasi eine natürliche Reaktion auf die Außenpolitik der USA darstellen und dass er, Peter Zudeick, bei aller Wertschätzung Chomskys soweit nicht mitgehen könnte. Das Problem dabei ist nur, dass Chomsky so ein kurzgegriffe­nes Statement nie abgegeben hat, so dass Zudeick, ohne es zu wollen, bekannten Vorverurteilungen Vorschub leistete.

Chomsky hat in seiner Analyse immer den weit größeren Zusammenhang dargestellt, der sich mit der CIA-Ausbildung von Widerstandsgruppen á la Osama bin Ladens gegen die Sowjetbesatzung Afghanistans beschäftigte, die sich nach Erfüllung dieser Aufgabe gegen die „ungläubigen" Unterstützer gewendet haben; doch damit nicht genug, hat er in seinen Stellungnahmen nach dem 11.09. die koloniale Geschichte und die Fortführung dieser Herrschaftsansprüche bis heute problematisiert und deshalb vor einer Eskalation der Gewaltspirale gewarnt, nicht mehr und nicht weniger.

„Terrorismus - die Plage der Neuzeit"

In seiner Stuttgarter Rede ging es Chomsky erneut um diesen großen Zusammenhang, aufgehängt am Ronald Reagan-Zitat „die böse Geisel des Terrorismus, die Plage der Neuzeit" ließ Noam Chomsky die 20-jährige Geschichte des Staatsterroris­mus bis zu G.W. Bushs „Krieg gegen den Terror" Revue passieren.

Reagan stützte die Invasion Israels im Südlibanon 1982, die 15.000 bis 20.000 Menschen das Leben kostete, er stützte das südafrikanische Apartheid-System gegen eine „der schlimmsten terroristischen Gruppen der Welt", gemeint war Nelson Mandelas ANC (so die Haltung Washingtons 1988), und er bekämpfte zahlreiche politische Aktivitäten in Lateinamerika. Ein Beispiel für das Zu­sammenspiel von Politik und Medien, die die öffentliche Meinung zur Zustimmung bringen oder zumindest  ruhigstel­len sollen, erwähnt er ausführlich, einmal, weil es einen Bezug zu Deutschland hat, und zum anderen, weil es eine gewisse neue Qualität der Beeinflussung kreierte:

Im April 1986 bombardierte die US Air Force in Libyen die Städte Tripolis und Benghazi und tötete dabei Dutzende Zivilis­tInnen. Der Reporter Charles Glass, Korrespondent für den Nahen Osten des Senders ABC, rief Noam um 6:30 Uhr abends an, er solle sich die 7 Uhr-Nachrichten ansehen. 1986 kamen auf allen US-Fernsehsta­tionen die Hauptnachrichten um 7 Uhr abends. Chomsky schaltete ein und erlebte die Live-Bombardierung der libyschen Städte; zum ersten Mal wurde eine  Bombardierung zur Hauptsendezeit in den USA initiiert. Dazu war eine größere Vorbereitung nötig, als man gemeinhin annimmt, denn Frankreich hatte den Jagdbombern die Überflugrechte verweigert, so dass diese einen großen Umweg fliegen mussten, um pünktlich zur Stelle zu sein.

Nachdem die beeindruckenden Bilder von zwei Städten in Flammen zu sehen waren, wurde nach Washington umgeschaltet, wo in einer „analytischen Weise" die neue Doktrin verkündet wurde, nach der sich die USA „gegen zukünftige Terroranschläge frühzeitig selbst ver­teidigen" werden.

Dem allem vorausgegangen war ein Bombenanschlag auf eine Disco in Berlin, bei der ein amerikanischer Soldat getötet wurde; eine Beteiligung Libyens konnte zwar nicht schlüssig nachgewiesen werden, Zweifel wurden geäußert, niemand verurteilte aber die Aktion der Air Force. Für die Reagan-Administration hatte die Bombardierung jedoch noch eine ganz andere Wichtigkeit. Sie kam pünktlich vor einer Entscheidung des Kongresses, die Mittel für die Unterstützung der Contras in Nicaragua gegen die sandinis­tische Regierung bereitstellen sollte. Und um sicher zu stellen, dass niemand diesen Zusammenhang übersehen konn­te, erinnerte Reagan „das Repräsentantenhaus, das diese Woche abstimmt, dass dieser Erzterrorist Ghaddafi 400 Millionen Dollar, ein Waffenarsenal und Berater nach Nicaragua geschickt habe, um seinen Krieg in die USA selbst zu tragen". Das, ironisiert Noam, sollte wohl meinen, den US-Boden in Nicaragua...

Der Krieg in Lateinamerika richtete sich seit den 60er Jahren auch ganz explizit gegen linke kirchliche Kreise, namentlich gegen die Theologie der Befreiung. Erinnert sei in diesem Zusammenhang z.B. an die Ermordung des Erzbischofs Oscar Romero in El Salvador.

Noam macht klar, dass dazu auch gern der Windschatten wichtiger anderer politischer Ereignisse genutzt wird. So ist es kein Zufall, dass na­hezu zeitgleich zum Fall der Berliner Mauer, im November 1989, sechs führende Jesuiten in El Salvador ermordet wurden. Von Leuten, die zuvor in der John F. Kennedy Special Forces School in North Carolina ausgebildet worden waren. Noam zeigte sich deshalb gespannt, wie der 30. Jahrestag der Ermordung Romeros begangen werden wird, zwar feiern unsere politischen Verantwortlichen gerne Jahrestage, wie zuletzt den Jahrestag der 20-jährigen Befreiung Ost-Europas von der russischen Tyrannei. Der Tscheche Vaclav Havel hat diese Befreiung schöner gekennzeichnet als „einen Sieg der Kräfte der Liebe, der Toleranz, der Gewaltlosigkeit, des menschlichen Geistes und der Vergebung". Chomsky befürchtet aber Stillschweigen zum 30. Todestag Romeros, der „Stimme der Stimmlosen", wie dieser bezeichnet wurde. Ermordet, während er eine Messe las, ein paar Tage, nachdem er an US-Präsident Carter vergebens die Bitte geschrieben hatte, keine Hilfe an die Militär-Junta zu senden, die „nur weiß, wie sie die Menschen unterdrückt und nur die Interessen der Salvado­rianischen Oberschicht verteidigt und die Hilfslieferungen nur dazu benutzen wird, die Or­ganisationen zu zerstören, die für die fundamentale Menschenrechte kämpfen". Es springt ins Auge, so Noam, wie gern wir den Fall einer Tyrannei feiern, aber vor den eigenen Taten einen Mantel des Schweigens ausbreiten, kein Ruhmesblatt „für unsere moralische und intellektuelle Kultur".

Fragt man sich, wie sich „Terror" im amerikanischen und britischen Recht definiert, findet man, dass Terror „die kalkulierte Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit Gewalt ist, um Ziele zu erreichen, die politischer, religiöser oder ideologischer Natur sind ... durch Einschüchterung, Zwang oder eingeflößte Angst".  Es ist keine Frage, dass der Anschlag auf das World Trade Center am 11.09.2001 ein herausragender krimineller Akt war, der fast 3.000 Menschen das Leben kostete, ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit", das die Welt verändert hat.

So schrecklich dieses Verbrechen war, fragt sich Noam Chomsky, ob es nicht noch weit schrecklicher hätte enden können? Was, so spekuliert er, wäre gewesen, wenn hinter Al-Qaida eine Supermacht gestanden hätte, die den Angriff unterstützt hätte und erfolgreich gewesen wäre? Sie hätten das Weiße Haus bombardiert, den Präsidenten getötet, einen bösartigen Mili­tärdiktator etabliert, der zwischen 50.000 bis 100.000 Menschen töten und um die 700.000 foltern lassen hätte, der eine Terrorgruppe gebildet hätte, spezialisiert auf Attentate in aller Welt, mit dem Ziel, in anderen Staaten ähnliche Regime zu bilden, die töten und foltern? Gesetzt den Fall, dieser Diktator hätte sich Wirtschaftsfachleute einfliegen lassen, die in kurzer Zeit die Wirtschaft des Landes ruinieren, dafür aber den Nobelpreis einheimsen? Dann, so Noam, wäre diese Fiktion doch ein schlimmeres Szenario als das, was am 11.09. passiert ist; - und doch ist ge­nau das am 11.09., am ersten 11.09.1973, in Chile passiert. Das einzige, was er verändert habe, er habe die Zahlen der Toten und Gefolterten zur Illustration auf die Bevölkerung der USA angepasst. Nur: Dieser erste 11.09. habe die Welt nicht verändert. Weshalb nicht? Ganz einfach, er war kein singuläres Ereignis, er stand in einer langen Reihe von ähnlichen Aktionen, die Lateinamerika kontrollierten und sabotierten, angefangen 1964 in Brasilien und weitergeführt mit vielen Zwischenschritten bis zu Ronald Reagans Krieg gegen den Terror und seiner gleichzeitigen Vorliebe für die brutalen argentinischen Generäle in den 80er Jahren.

Doch legt man diese unbequemen Wahrheiten zur Seite, bleibt die Frage, wie man die „Geisel des Terrors" wieder los wird?

Die Antwort scheint klar, bestimmt nicht, wie George W. Bush dies versucht hat, und deshalb ist es zu bezweifeln, dass der Krieg gegen den Terror seine wirkliche Absicht war. Dies beginnt laut Chomsky schon mit den Verhörmethoden der Kriegsgefangenen. Selbst das FBI kritisierte die Folterungen als ineffizient. Man hatte viel bessere Erfolge in Indo­nesien mit humanen Verhören, die einzelne Gefangene zum Überlaufen bewegten und zu verlässlichen Informanten machten. Das Abu Ghraib-Gefängnis und Guantánamo haben stattdessen ganze Generationen von Selbstmordattentä­tern motiviert, die inzwischen mehr US-SoldatInnen den Tod brachten als die Anschläge selbst.

Die Bombardierung Afghanistans wurde von oppositionellen AfghanInnen aller Gruppierungen als entscheidender Rückschlag betrachtet, im Bemühen, die Taliban zu schwächen oder zu spalten. Und wenn man sich, so Noam, daran erinnert, dass Al-Qaida nach den Anschlägen in der islamischen Welt von allen Seiten verurteilt wurde und dabei war, in eine Isolation zu geraten, dann hat Bushs „Krieg gegen den Terror", der zum Krieg gegen den Islam werden konnte, zu Al-Qaidas nachhaltigem Einfluss auf die IslamistInnen zahlreicher Staaten geführt. Nur ergänzend erwähnt Noam die Invasion in den Irak, recht zynisch hält er fest, dass sie wohl nur einem Zweck dienen konnte: den Terrorismus zu vermehren. Mit durchschlagendem Erfolg; nach Analysen von Terrorismus-Experten in den USA ist der Terrorismus seitdem um das siebenfache an­gestiegen.   

„Sie" wissen, was zu tun ist...

Aus dem Beschriebenen leiten sich die Alternativen von selbst ab, wer aber weniger Phantasie hat, dem gibt Noam mit der Entwicklung in Nordirland noch ein Beispiel. Solange die britische Regierung der IRA lediglich mit Gewalt antwortete, verschärfte sich der Konflikt. Als London Ende der 90er Jahre seine Politik änderte und auf die Ursachen des Konflikts einging, dauerte es nicht lange, bis sich die Situation deutlich entspannte. Noam war zweimal in Nordirland: „1993 war Belfast eine Kriegszone, als ich im Herbst 2009 dort war, gab es Spannungen, aber man musste als Außenstehender schon ge­nau hinsehen, um sie wahrzunehmen."

Wenn, so lautet sein Fazit, wenn wir die „Geisel des Terrorismus" loswerden wollen, wissen wir genau, wie wir es anstellen müssen. Wir müssen den Akt als Verbrechen kennzeichnen, die Täter identifizieren und vor ein faires Gericht bringen. Dies funktioniert.

Wenn man nicht auf diese Weise handelt, gibt es für ihn nur eine vernünftige Erklärung: Die vorgegebenen Ziele sind nicht die wirklichen Ziele... und will man wissen, wie die wirklichen Ziele lauten, sollte man sich an eine juristische Maxime halten: Man bezieht sich auf das vor­hersehbare Ergebnis einer Handlung, um einen Beweis für die dahinterstehenden Absichten zu erhalten.

Wolfgang Haug

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 349, 39. Jahrgang, Mai 2010, www.graswurzel.net