Von der Ausnahme zur Normalität - Polizei unterwegs im Ausland

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Formen des internationalen und grenzüberschreitenden Einsatzes von Polizei rapide vermehrt – eine unvollständige Übersicht.

Anfang November 2010 erklärte die schwedische Oberstaatsanwaltschaft, dass sie eine Voruntersuchung gegen die US-Botschaft in Stockholm eingeleitet habe.[1] Der Grund: Über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg hat eine mit der „Aufdeckung verdächtiger Aktivitäten“ rund um die Botschaft beauftragte „Surveillance Detection Unit“ schwedische StaatsbürgerInnen ausspioniert. Dies habe man weltweit getan, lautet die wenig beruhigende Antwort der US-Botschaft. Auslöser für die Aktivitäten seien die Anschläge auf die amerikanischen Vertretungen in Kenia und Tansania im Jahre 1998 gewesen. In Schweden wie auch in Norwegen habe man mit den örtlichen Staatsschutzdiensten zusammengearbeitet. Diese bestreiten zwar die Kooperation, sehr glaubwürdig ist das Dementi jedoch nicht.

Dass politische Polizeien und Geheimdienste jenseits der Grenzen ihres Staates und dabei keineswegs nur auf dem Gelände der Botschaften physisch präsent sind, ist genauso wenig neu wie die zumindest inoffizielle Unterstützung, die sie von ihren KollegInnen vor Ort beim Kampf gegen den gemeinsamen Feind erhalten. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts konnte der preußische Polizeiagent Wilhelm Stieber, der die deutschen Flüchtlinge in London auskundschaftete, auf die stillschweigende Duldung seiner Aktivitäten durch die britischen Behörden rechnen.[2] Je mächtiger der Staat, der die Spitzel entsendet, je mehr das Feindbild auch dem des Einsatzstaates entspricht, desto einfacher sind derartige Auslandsaktivitäten möglich. Dass polizeiliche Aktivitäten nicht an der Staatsgrenze enden, gilt aber nicht nur für die politischen Polizeien. In den vergangenen Jahrzehnten hat eine massive Internationalisierung polizeilicher Tätigkeit stattgefunden, die eine ganze Reihe neuer Formen des Auslandseinsatzes hervorbrachte.

Kriminalpolizeiliche Vorverlagerung

Am ersten sichtbar wurde dieser Prozess bei den Kriminalpolizeien. Deren Zentralstellen – in der BRD das Bundeskriminalamt (BKA) – hatten seit jeher nicht nur eine zentralisierende Rolle nach innen, sondern waren auch zuständig für die internationale Zusammenarbeit. Über Jahrzehnte hinweg bedeutete dies in erster Linie Austausch von Nachrichten und Fahndungsmeldungen via Interpol, Abordnung von Beamten ins Generalsekretariat der Organisation in Lyon (bzw. davor in Paris) und Abwicklung des polizeilichen Rechtshilfeverkehrs.

In den 70er Jahren erfolgte eine Aufwertung der internationalen Zusammenarbeit, die sich zunächst vor allem in der Terrorismusbekämpfung niederschlug. Auf der Suche nach flüchtigen RAF-Mitgliedern entsandte das BKA bereits in der zweiten Hälfte der 70er Jahre Zielfahnder ins Ausland – übrigens auch in die Staaten des „realen Sozialismus“, deren Bereitschaft zur Kooperation der damalige BKA-Präsident Horst Herold 1979 ausdrücklich lobte.[3]

Ab den 80er Jahren avancierte die „Bekämpfung“ des internationalen Drogenhandels zum „Renner“ der internationalen Polizeikooperation. Das BKA entsandte seine ersten Verbindungsbeamten ins Ausland und folgte damit einem Konzept, dem sich die US-amerikanischen Polizeien schon Jahrzehnte vorher verschrieben hatten. Bereits in den 20er Jahren hatten sie die ersten Polizeiattachés an ihren Botschaften in Südamerika stationiert. Seit Ende des zweiten Weltkriegs führte das damalige Federal Bureau of Narcotics (FBN) etwa ein Dutzend Agenten im Ausland. Mit der Gründung der Drug Enforcement Agency (DEA) 1968 wurden die Auslandsbüros systematisch ausgebaut. 1973 arbeiteten 124 DEA-Agents in 47 Verbindungsbüros. Drei Jahre später hatte sich die Zahl der Auslandsagenten verdoppelt, sie sollte bis Anfang der 90er Jahre auf rund 300 wachsen. Hinzu kamen über hundert Administrativkräfte in den Auslandsbüros. Innerhalb kurzer Zeit sei die DEA zur „ersten globalen Kriminalpolizei mit operativen Kapazitäten“ aufgestiegen, kommentieren Peter Andreas und Ethan Nadelmann.[4] Hatten schon die Agenten des alten FBN ihre eigenen Ermittlungen im Stil von Privatdetektiven geführt, so können die DEA-Büros durchgängig auf eigene V-Leute-Netze zurückgreifen und größere verdeckte Operationen und Scheingeschäfte betreiben. Darüber hinaus üben sie politischen Druck aus, agieren als Lehrmeister für verdeckte Polizeimethoden oder helfen beim Aufbau von Spezialdienststellen.

Verglichen damit sind die Einflussmöglichkeiten von europäischen VerbindungsbeamtInnen beschränkt. Unter den europäischen Polizeien verfügt das BKA mit seinen 65 „Kriminalisten mit Diplomatenpass“ in 50 Staaten zwar über das größte Auslandsnetz. In der Regel handelt es sich dabei aber nur um Ein-Mann- bzw. Ein-Frau-Büros, die für den administrativen Support allenfalls auf die Botschaften zurückgreifen können. Ermittlungen im Alleingang sind offiziell nicht erwünscht und praktisch auch kaum möglich. Wirkungslos sind die VerbindungsbeamtInnen aber nicht: Sie können im Einvernehmen mit den Behörden ihres Einsatzstaates an Ermittlungshandlungen – Durchsuchungen, Vernehmungen etc. – teilnehmen, erhalten Einsicht in Unterlagen und können die Bearbeitung von deutschen Ersuchen erheblich beschleunigen.

Ab 1982 verfügte das BKA auch über einen eigenen Etat für Ausbildungs- und Ausrüstungshilfen, bei deren Vergabe die VerbindungsbeamtInnen eine zentrale Rolle spielen. Das Amt hat seinen ausländischen PartnerInnen durchaus etwas anzubieten: von technischem Gerät über Lehrgänge vor Ort bis hin zu Stipendien am Kriminalistischen und am Kriminaltechnischen Institut in Wiesbaden. Ergebnis solcherart kriminalistischer Diplomatie ist nicht nur der dauerhafte persönliche Kontakt in die Polizeibehörden des betreffenden Staates, sondern auch der Transfer von politischen, rechtlichen und praktischen Konzepten.

Grenzüberschreitende Tarnkappen

Die Konzentration auf die Bekämpfung von Drogenhandel und „organisierter Kriminalität“ sorgte seit den 80er Jahren auch für eine Ausdehnung verdeckter Ermittlungsmethoden über die Staatsgrenzen hinweg. Dieser Prozess ging allerdings nicht ohne Skandale und Pannen vonstatten. Der unangemeldete Einsatz von deutschen Observationskräften und V-Leuten in den (damals) drogenpolitisch liberalen Niederlanden sorgte in der ersten Hälfte der 80er mehrfach für diplomatische „Verstimmungen“.[5]

Mit der zunehmenden Professionalisierung verdeckter Methoden begann sich ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre zunächst bei den Zentralstellen die Einsicht durchzusetzen, dass solche Einsätze nur mit der Zustimmung und Unterstützung der Polizeibehörden auf der anderen Seite der Grenze möglich seien. Die rechtliche Krücke dafür bildeten zunächst die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Mit dem Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) von 1990 setzte im europäischen Raum ein Prozess der Verrechtlichung grenzüberschreitender Methoden ein, der zwar nichts zum Schutz der Rechte der Betroffenen, aber sehr viel zur Standardisierung und Normalisierung dieser Handlungsformen beitrug.[6]

Art. 40 SDÜ fasst die grenzüberschreitende Observation als eine spezielle Form der Rechtshilfe. Unterschieden werden grundsätzlich zwei Fälle: der Normalfall, bei dem die Observation durch ein Rechtshilfeersuchen an die polizeiliche Zentralstelle bzw. die zentrale Strafverfolgungsinstanz (Staatsanwaltschaft, Untersuchungsrichteramt) beantragt und genehmigt wird, und der Eilfall, in dem eine solche Vorabgenehmigung aus Zeitgründen nicht möglich ist; die Observationskräfte müssen in diesem Falle den Grenzübertritt der Zentralstelle des betreffenden Staates noch während der Operation mitteilen; das Rechtshilfeersuchen muss nachgereicht werden.

Zeitliche oder räumliche Begrenzungen gibt es für die grenzüberschreitende Observation nicht. Sie ist nur im Rahmen eines Ermittlungs­verfahrens erlaubt und durfte sich in der ursprünglichen Fassung des SDÜ auch nur gegen die verdächtige Person richten. Im Normalfall kann es dabei um jede auslieferungsfähige Straftat (=Mindest­strafan­dro­hung von einem Jahr Haft) gehen; für den Eilfall ist ein Deliktkatalog vorgesehen, der von Mord bis zum schweren Diebstahl reicht – den „unerlaubten Verkehr mit Betäubungsmitteln“ selbstverständlich eingeschlossen.

Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde die Schengen-Kooperation insgesamt in den EU-Rahmen überführt. Die Ausweitung der Regelungen über die grenzüberschreitende Observation fand aber bezeichnenderweise außerhalb dieses Kontextes statt – und zwar zunächst im Polizeivertrag von 1999 zwischen Deutschland und der Schweiz, die erst zehn Jahre später zum assoziierten Schengen-Staat wurde.[7] Auch im Eilfall ist hier für die Observation nur noch eine auslieferungsfähige Straftat erforderlich. Die Maßnahme ist nicht nur gegen Verdächtige, sondern auch gegen Kontaktpersonen möglich. Grenzüberschreitende Observationen können zudem außerhalb strafrechtlicher Ermittlungen zur „Verhinderung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung“ erfolgen. Zudem erlaubt der Vertrag ausdrücklich die Zuhilfenahme technischer Mittel und das Betreten von „der Öffentlichkeit zugänglichen Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräumen“.

Das Abkommen mit der Schweiz galt nun für die Bundesregierung als Vorlage für weitere Verhandlungen mit anderen Nachbarstaaten[8] sowie auf EU-Ebene. Im Oktober 2003 änderten die Justiz- und Innenminister der EU den Art. 40 SDÜ, der in seiner neuen Fassung auch die grenzüberschreitende Observation von Personen zulässt, bei denen „ernsthaft anzunehmen ist, dass sie die Identifizierung oder Auffindung“ der Verdächtigen herbeiführen könnten.[9] Der Deliktkatalog für den Eilfall wurde u.a. um die Schleuserkriminalität, die Geldwäscherei, die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung sowie „terroristische Straftaten“ erweitert.

Weit weniger ausführlich sind die Regelungen zur „Kontrollierten Lieferung“, die seit Mitte der 80er Jahre zum Repertoire zunächst der Zollfahndungsdienste und dann der Polizeien in (West-)Europa gehört und nur als grenzüberschreitende Methode denkbar ist. Sie setzt voraus, dass die jeweiligen nationalen Zoll- oder Polizeidienste eine verbotene Ware – anfangs nur illegale Drogen – nicht beschlagnahmen, sondern auf den unmittelbaren Fahndungs- oder Sicherstellungserfolg verzichten – zugunsten der erwarteten gemeinsamen Erfolge gegen eine vermutete Organisation, Hinterleute oder Financiers.

Weil es um verbotene Waren geht, ging es rechtlich zunächst darum, den staatlichen Strafanspruch zurückzustellen und damit diese Methode überhaupt erst zu ermöglichen. Das ist der Kern der ersten vertraglichen Regelungen – in Art. 11 der Wiener UN-Konvention zur Bekämpfung des Drogenhandels von 1988[10] und in Art. 73 SDÜ. Letzterer verpflichtet die Vertragsstaaten bzw. heute die Mitgliedstaaten der EU „im Rahmen ihrer Verfassung und ihrer Rechtsordnung (zu) ermöglichen, dass die kontrollierte Lieferung bei dem unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln angewandt werden kann.“ Die tatsächliche Anwendung wird an eine Einzelfallentscheidung gebunden. Die „Herrschaft und die Befugnis zum Einschreiten“ liegt bei dem jeweiligen Gebietsstaat. Diese beiden Elemente blieben auch bei den nachfolgenden Verträgen erhalten. Letztere bringen vor allem eine Erweiterung über den Bereich der Drogenbekämpfung hinaus auf alle „strafrechtlichen Ermittlungen wegen auslieferungsfähiger Straftaten“, so das EU-Rechts­hilfe­übereinkommen aus dem Jahre 2000.

Auffallend ist, dass keine der bestehenden vertraglichen Regelungen auch nur ansatzweise die Frage stellt, wie diese kontrollierten Lieferungen entstanden sind – ob durch eine Kontrollaktion, durch zu­fällig aufgeschnappte Informationen, durch Anzeigen oder indem sie von V-Personen oder Verdeckten Ermittlern (VE) angestoßen wurden. Letzteres ist aber insbesondere bei größeren Lieferungen illegaler Drogen der Fall. Die Grenze zwischen kontrollierter und bestellter Lieferung wird nicht thematisiert. Auch praktisch bleibt der Verteidigung in den entsprechenden Strafverfahren die Herkunft der Information, die zu einer solchen Operation den Ausschlag gab, verborgen.

Die Regelungen zum grenzüberschreitenden Einsatz von VE sind auf EU-Ebene – konkret: im Zollamtshilfeabkommen (Neapel II) von 1997 und im EU-Rechtshilfeübereinkommen aus dem Jahre 2000 – bisher reichlich dünn.[11] Sie erlauben einen solchen Einsatz im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen, das Verfahren wird aber nicht weiter benannt.

Auch in diesem Zusammenhang enthalten die bilateralen Abkommen zwischen der BRD und der Schweiz, den Niederlanden, Österreich und Polen ausführlichere Regelungen. Vorgesehen ist hier ein Eilfall, der dann gegeben sein soll, wenn ein vorheriges Rechtshilfeersuchen nicht rechtzeitig gestellt werden kann, ohne den grenzüberschreitenden Einsatz aber „die Identität des eingesetzten Beamten aufgedeckt würde.“ Hintergrund dieser Regelung ist, dass verdeckte Ermittlungen im grenznahen Raum schnell über die Grenze hinausreichen, auch wenn das Verfahren „an sich“ nichts mit dem Nachbarland zu tun hat. Der schnelle Einsatz im Ausland, der anfangs für Skandale gesorgt hatte, ist damit vertraglich eingeholt worden. An die Stelle der Prüfung und Bewilligung eines Gesuches tritt praktisch die kurzfristige Anmeldung bei der Polizei des anderen Staates.

Ebenfalls vertraglich abgesegnet werden in den genannten Abkommen die Praxis der Organleihe, d.h. die Anforderung eines von der Legende her passenden ausländischen VE für ein inländisches Verfahren, sowie grenzüberschreitende verdeckte Ermittlungen jenseits des Strafverfahrens: zur Verhinderung von „auslieferungsfähigen Straftaten von erheblicher Bedeutung“.

2006 startete die deutsche Delegation in der „Multidisziplinären Gruppe Organisierte Kriminalität“ des Rates eine Initiative zur weiteren Verrechtlichung des VE-Einsatzes in der EU, die sich weitgehend an die der bilateralen Abkommen anlehnt. Sicherstellen wollte die Bundesregierung darüber hinaus, dass der Staat, in dem der VE zum Einsatz kommt, dessen Identität auch gegenüber den Gerichten schützt.[12]

Fremde Hoheitszeichen

Verdeckte polizeiliche Methoden sind wegen ihrer Unsichtbarkeit ein gravierender Eingriff in die Rechte und Freiheiten der Betroffenen, der Einsatz von uniformierten PolizistInnen eines anderen Staates ist jedoch das sichtbare Symbol für die Aufgabe von einzelstaatlichen Souveränitätsansprüchen gegenüber einer als gemeinsam verstandenen „Kriminalitätsbekämpfung“. Es ist deshalb kein Zufall, dass die VerhandlerInnen der fünf ursprünglichen Schengen-Staaten Ende der 80er Jahre viel länger mit der Ausarbeitung der Regelungen über die grenzüberschreitende Nacheile als mit jenen zur Observation be­schäftigt waren.

Das SDÜ ist das erste Abkommen, das es der Polizei erlaubt, Personen über staatliche Grenzen hinweg zu verfolgen, wenn sie auf frischer Tat angetroffen wurden oder aus der Haft geflohen sind. Die grenzüberschreitende Nacheile ist in Art. 41 SDÜ nur als Ausnahme konzipiert. Wie umstritten diese Aufgabe von Souveränitätsansprüchen war, zeigt sich daran, dass der Artikel nicht eine gemeinsame Regelung enthält, sondern eine Reihe von Alternativen. Die Vertragsstaaten (bzw. heute: die EU-Mitgliedstaaten) können die Nacheile bei allen auslieferungsfähigen Straftaten oder nur bei einem Katalog ausgewählter Delikte zulassen. Sie können sie räumlich und zeitlich limitieren. Sie können entscheiden, ob die BeamtInnen des Nachbarstaates ein Fest­halterecht bis zum Eintreffen der eigenen Polizei haben sollen oder nicht.[13]

Deutschland hat sich schon bei der Aushandlung des SDÜ um eine möglichst weitgehende Regelung bemüht und wählte denn auch bei Unterzeichnung des Abkommens die offenste der möglichen Varianten. Die bereits zitierten bilateralen Abkommen mit den Nachbarstaaten brachten nicht nur eine Erweiterung der Nacheileregelungen. Der Vertrag mit der Schweiz war der erste, der zusätzlich nicht nur den Austausch von BeamtInnen und deren Beteiligung an der polizeilichen Arbeit auf der anderen Seite der Grenze – ohne hoheitliche Befugnisse –, sondern auch die Tätigkeit mit solchen Eingriffsvollmachten vorsah.

Die entsprechenden Regelungen wurden fast wortgleich in den Prümer Vertrag übernommen, der im Juli 2005 von zunächst sieben EU-Staaten unterzeichnet wurde. Der Beschluss des Rates von 2007, mit dem die EU zu diesem Kern-Europa aufschloss, sah zunächst von der Verankerung exekutiver Befugnisse ab.[14] Die Debatte hierzu ist aber noch nicht ausgestanden.

Das SDÜ bildete den ersten Schritt zur Aufgabe von Souveränitäts­ansprüchen und formulierte deshalb die Befugnisse zur Nacheile auch vergleichsweise vorsichtig. Diese Vorsicht ist mittlerweile vorbei. Der offen sichtbare Einsatz von PolizeibeamtInnen jenseits der Binnengren­zen wurde in den skizzierten neueren Verträgen von der Ausnahme zu einem begrenzten Regelfall. Das „Handbuch für grenzüberschreitende Einsätze“, das die Polizeiarbeitsgruppe des Rates im Dezember 2009 vorlegte, betont denn auch neben den rechtlichen Grundlagen vor allem die „Strukturen“ der Kooperation. Damit sind zum einen die nationalen Zentralstellen gemeint, die über Ersuchen für bestimmte Einsatzformen entscheiden, zum andern „Zen­tren für Polizei- und Zollzusammenarbeit“, die es mittlerweile an allen EU-Binnengren­zen gibt. Sie bewerkstelligen nicht nur den grenznahen Informationsaustausch, sondern auch die Koordination gemischter Observationsgruppen und Streifen auf beiden Seiten einer Grenze.[15]

Wenn der Nachbar den Schlagstock schwingt

Wie unbefangen grenzüberscheitende Polizeikooperation in der EU praktiziert wird, zeigt die Zusammenarbeit bei „Großveranstaltungen“, insbesondere bei bedeutenden Fußballspielen oder bei Protesten gegen Gipfeltreffen. Begonnen hat sie 1988 bei der Fußball-Europameis­ter­schaft in Deutschland, bei der man erstmals VerbindungsbeamtInnen und „Szenekenner“ aus den teilnehmenden Staaten an den Vorbereitungen und Einsätzen beteiligte.[16] Die Einrichtung von besonderen Zentren für die VerbindungsbeamtInnen gehört heute bei internationalen Sportveranstaltungen oder Gipfeltreffen genauso zum „guten“ Ton wie der vorherige Informationsaustausch über zentrale Kontaktstellen. Auch da, wo Proteste nur im nationalen Rahmen und fernab der Grenzen ablaufen, gestattet man sich den Luxus, ausländische polizeiliche BeobachterInnen einzuladen. Ob es vorgesehen ist, dass diese gleich selbst mit Hand anlegen wie französische Bereitschaftspolizisten der Compagnies Républicaines de Sécurité im November 2010 beim Castor-Transport im Wendland, mag dahin gestellt bleiben.

Der Prümer Vertrag und der entsprechende Ratsbeschluss sowie davor bereits der deutsch-schweizerische Polizeivertrag erlauben, ohne dass es die hiesige Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen hätte, eine viel weiter gehende Kooperation, nämlich die Gestellung von Material sowie die „Entsendung von Spezialisten und Beratern“ zu solchen Anläs­sen. Alljährlich im Januar sind mehrere Wasserwerfer aus Baden-Würt­temberg und Bayern samt Besatzung in Graubünden unterwegs, um Pro­teste gegen das Weltwirtschaftsforum abzuwürgen. 2003 ent­sandte Deutschland ein Kontingent von 750 BeamtInnen aus der Bundespolizei (BPol) und den Bereitschaftspolizeien (BePo) mehrerer Bundesländer nach Genf, um die schweizerischen Polizeien anlässlich des G8-Treffens im benachbar­ten Evian zu unterstützen. Bei der Fußball-Weltmeister­schaft 2006 räum­te die BRD unter anderem britischen PolizistInnen exekutive Befugnisse gegen „ihre“ Fans ein. Bei der Europameisterschaft 2008 standen je 850 deut­sche PolizistInnen für Einsätze in Österreich und der Schweiz zur Verfügung. Im April 2009 halfen sich die deutsche und die französische Polizei beim Nato-Gipfel in Kehl und Straßburg.

Grenze und Migrationsabwehr

Die Sicherung der Außengrenzen und die Migrationskontrolle gehören zu den zentralen Elementen der EU-Innen- und Justizpolitik, seit es diese gibt. Die Kontrolle und Überwachung der Grenzen blieb zwar in der Hand des jeweiligen Mitgliedstaates, sollte aber im gemeinsamen Interesse und nach gemeinsamen Standards betrieben werden. Darüber hinaus betrieb man auch in diesem Bereich eine Politik der Vorverlagerung, zu der – ähnlich wie zuvor in der Drogenbekämpfung – die Entsendung von VerbindungsbeamtInnen in Drittstaaten gehörte.[17]

Seit dem Grenzschutzaktionsplan von 2002 begannen die Grenzpolizeien der EU gemeinsame Koordinierungszentren aufzubauen, die ab 2005 von der neu eingerichteten „Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ – Frontex – mit Sitz in Warschau übernommen wurden. Deren rasch anwachsendes Personal rekrutiert sich zu einem großen Teil aus BeamtInnen der Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten.[18] Auf deren Personal und Material greift Frontex auch bei den gemeinsamen Operationen zurück, die die Agentur koordiniert. Die Verantwortung und Leitung dieser gemeinsamen Einsätze an den Außengrenzen verbleibt weiter bei dem Mitgliedstaat, auf dessen Territorium oder vor dessen Küsten sie stattfinden. Im Mittelmeer und im Südatlantik – zwischen dem afrikanischen Festland und den Kanari­schen Inseln – haben sich diese gemeinsamen Operationen mittlerweile verfestigt – mit dem Ergebnis, dass dieser Weg nach Europa für Flüchtlinge immer schwieriger und immer gefährlicher geworden ist.

Mit einer Verordnung aus dem Jahre 2007 erhielt Frontex ein zusätzliches Instrument: „Wenn ein Mitgliedstaat sich einem massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen gegenübersieht, die versuchen, illegal in sein Hoheitsgebiet einzureisen, was unverzügliches Handeln erfordert,“ kann Frontex temporär „Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke“ (Rapid Border Intervention Teams – RABITs) entsenden.[19] Um für solche Situationen gerüstet zu sein, bildeten die Mitgliedstaaten und die Schengen-assoziierten Länder „Pools“ entsprechend ausgebildeter BeamtInnen. Insgesamt sind derzeit rund 690 GrenzschützerInnen der beteiligten Staaten für „Soforteinsätze“ mobilisierbar, ca. fünfzig können von der BPol entsandt werden. Nachdem diese Teams in den ersten Jahren sieben Übungen absolviert haben, begann kürzlich der erste wirkliche Einsatz. Seit dem 2. November 2010 sollen 175 GrenzpolizistInnen aus 23 Schengen-Staaten, darunter 40 BundespolizistInnen, die griechisch-türkische Landgrenze gegen den Ansturm „illegaler MigrantInnen“ verteidigen.[20]

Weltweit Ordnung schaffen?

Dass nicht nur das Militär, sondern auch die Polizei zu außenpolitischen Zwecken genutzt wird, ist nichts grundsätzlich Neues. Bis zum definitiven Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation war das wesentliche Mittel, das der BRD hierfür zur Verfügung stand, die polizeiliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe. Diese galt – sieht man von den besonderen „Hilfen“, die seit den 80er Jahren im Kontext der Drogenbekämpfung vergeben wurden, ab – einerseits als „Türöffner für die deutsche Industrie“ und andererseits als „gewichtiger Teil unserer weltweiten Friedenspolitik“. Empfänger dieser Art von Entwicklungshilfe waren in erster Linie Staaten in Afrika und Asien. Bedient wurden treue Freunde des Westens, zum Teil aber auch Staaten, die sich an den „Blockfreien“ oder gar an der Sowjetunion orientierten, und bei denen es in der Optik der Bundesregierung darauf ankam, einen Fuß in der Tür zu behalten.[21]

Seit 1989 sind deutsche PolizistInnen darüber hinaus an Auslandsmissionen der UNO, der OSZE oder der EU beteiligt. Im Kontext der Sicherheits- und Verteidigungspolitik – sprich: des militärpolitischen Standbeins der EU – wurden diese Auslandseinsätze seit Ende der 90er Jahre systematisiert. Die Union begann nicht nur Kapazitäten für die militärische, sondern auch für die polizeiliche „Krisenintervention“ aufzubauen. 5.000 PolizistInnen sollten dafür insgesamt, 1.000 von ihnen kurzfristig, d.h. innerhalb von drei Monaten mobilisierbar sein.

Die bundesdeutschen Polizeien dürfen dabei zwar vorerst nicht formell unter militärischer Leitung tätig werden. Dass Einsätze in Kriegs- und Nachkriegssituationen aber das innere Gefüge der Polizei verändern, versteht sich fast von selbst.[22]

Grenzenlose Polizei

Staatsgrenzen bilden offenbar keine Grenzen für polizeiliche Tätigkeit mehr. Die Formen des polizeilichen Einsatzes im Ausland haben sich in einer Weise vermehrt, die noch vor wenigen Jahrzehnten kaum denkbar war. Sie werden betrieben von Zentralstellen, zu deren Aufgaben traditionell die Zusammenarbeit mit dem Ausland gehörte, und sie finden auf lokaler Ebene statt. Sie erfolgen verdeckt, in Alltagsuniform und in der Vollmontur der Bereitschaftspolizei; zur „Bekämpfung“ von Kriminalität und Drogen, zur verbissenen Verteidigung der Grenzen, zur „Erhaltung des Friedens“ und zur Sicherung „staatlicher Grundbedürfnisse“.

Polizei erscheint dabei als ein Mittel, das zu jedem Zweck taugt und jedes weitere Nachdenken über politische Lösungen und Alternativen erspart. Bei diesen Grenzüberschreitungen spielen Grund- und Menschenrechte allenfalls als Grüßaugust eine Rolle. Welcher hinter die Außengrenze der EU zurückgeschickte Flüchtling kann effektiv dagegen klagen, dass er wegen eines RABIT-Einsatzes kein Asylgesuch stellen konnte? Wie können Beschwerden afghanischer DorfbewohnerInnen über die Folgen deutscher Polizeihilfe durchdringen? Und selbst wenn der grenzüberschreitende Polizeieinsatz in der EU weitgehend verrechtlicht ist – wie kann der Schutz der Rechte von Betroffenen real Erfolg haben? Berechenbarkeit und Kontrolle gehen beim Einsatz jenseits der Grenze noch weiter verloren, als das im Staatsinnern der Fall ist.

Endnoten

[1] Neue Zürcher Zeitung v. 10.11.2010; Tagesanzeiger (Zürich) v. 9.11.2010
[2] Marx, K.: Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 8, Berlin (DDR) 1960, S. 405-470
[3] Herold, H.: Perspektiven der internationalen Fahndung nach Terroristen – Möglichkeiten und Grenzen, in: BKA-Vortragsreihe, Bd. 25, Wiesbaden 1980, S. 137-145
[4] Andreas, P.; Nadelmann, E.: Policing the globe. Criminalization and Crime Control in International Relations, Oxford 2006, p. 128 f.
[5] m.w.N. Busch, H.: Polizeiliche Drogenbekämpfung – eine internationale Verstrickung, Münster 1999, S. 245 f. und 256-258
[6] ursprüngliche Version des SDÜ: Bundesgesetzblatt (BGBl.) II 1993, S. 1010
[7] BGBl. II 2001, S. 948 ff.
[8] siehe die Abkommen mit Polen – BGBl. II 2003, S. 218, Österreich – BGBl. II 2005, S. 858 und den Niederlanden – BGBl. II 2006, S. 196
[9] Amtsblatt der EU (ABl. EU) C 24 v.11.10.2003
[10] www.unodc.org/unodc/en/treaties/illicit-trafficking.html
[11] ABl. EU C 24 v. 23.1.1998; ABl. EU C 197 v. 12.7.2000
[12] siehe m.w.N. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 86 (1/2007), S. 82 f.
[13] Busch, H.: Grenzenlose Polizei, Münster 1995, S. 324
[14] Prümer Vertrag: BGBl. II 2006, S. 626; Prüm-Beschluss: ABl. EU L 210 v. 6.8.2008
[15] Ratsdok. 10505/4/09 v. 14.12.2009; s.a. die Leitlinien für bewährte Verfahren betreffend die Zentren der Polizei- und Zollzusammenarbeit, Ratsdok. 13815/08 v. 3.10.2008
[16] Busch a.a.O. (Fn. 13), S. 317
[17] siehe detaillierter den Beitrag von Mark Holzberger in diesem Heft, S. 25-33
[18] siehe Marischka, C.: Frontex – eine Vernetzungsmaschine, in: Bürgerechte & Polizei/
CILIP 89 (1/2008), S. 9-17
[19] ABl. EU L 199 v. 31.7.2007; s.a. www.frontex.europa.eu
[20] vgl. Bundespolizei aktuell v. 3.11.2010, www.bundespolizei.de
[21] s. unsere Übersichten in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 20 (1/1985), S. 56-68, 31 (3/1988), S. 58-83 und 40 (3/1991), S. 84-90
[22] siehe detaillierter die Beiträge in diesem Heft von Matthias Monroy (S. 42-49) und Jonna Schürkes (S. 50-56)

Bibliographische Angaben

Busch, Heiner: Von der Ausnahme zur Normalität. Polizei unterwegs im Ausland, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 96 (2/2010), S. 3-14