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in (27.07.2017)

Editorial

 

 

Die Oktoberrevolution – Begeisterung der Subalternen weltweit, denn gegen alle Wahrscheinlichkeit schien der marxsche kategorische Imperativ, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385), den Weg in die Geschichte gefunden zu haben. Dass überhaupt eine Alternative aufgetaucht war, wirkte allein schon als riesiger Hoffnungsfaktor. Begeisterung auch unter den Intellektuellen, der Ernst Bloch exemplarisch Ausdruck gegeben hat: »ubi Lenin, ibi Jerusalem« (Prinzip Hoffnung, 711) – wo Lenin ist, dort ist Jerusalem. Stefan Zweig zählte Lenins Fahrt im plombierten Zug zu den »Sternstunden der Menschheit«, und für Rosa Luxemburg haben sich die Bolschewiki »das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum erstenmal die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zum ersten Mal zu proklamieren« (GW 4, 341). Dass der Sozialismus nicht mehr nur auf dem Papier stand, sondern als im Hier und Jetzt zu gestaltender in die Welt getreten war, lieferte den etablierten Mächten einen Gegner, den sie mit allen Mitteln der Propaganda und der Gewalt verteufelten und bekämpften. Und dennoch der Sieg im Bürgerkrieg gegen mehrere zaristische und ausländische Armeen, wenngleich unter ungeheuren Opfern, der Aufbau einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, schließlich der Sieg über die deutsche Wehrmacht und damit eine führende Stellung in den Weltkräfteverhältnissen, die die Handlungsbedingungen der Chinesischen Revolution und der antikolonialen Befreiungsbewegungen entscheidend verbesserte.

Die Errungenschaften der Februarrevolution – Presse- und Versammlungsfreiheit, Streikrecht, Achtstundentag, Wahlrecht für alle Personen über 20 Jahren unabhängig von Geschlecht, Vermögen, Nationalität – machten Russland momentan zum demokratischsten Land der Welt. Lenin, zerrissen zwischen Rätedemokratie und Ultrazentralismus, schärfte den Sowjets immer wieder ein, sie seien, anders als die Provisorische Regierung, eine Macht, die sich »auf die unmittelbare Initiative der Volksmassen von unten« stützt (LW 24, 20). Keine Politik also, die nur von außen an die ›Massen‹ appelliert, sondern die Sowjets als eine Schule des Volkes, als gesellschaftliche Aktivierungsform begreift, und doch gleichzeitig, mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918, die Abschaffung der Institutionen, in denen, wie Luxemburg sagt, das »energische politische Leben der breitesten Volksmassen« (GW 4, 356) allein sich entwickeln und nicht zuletzt den Sowjets die nötigen Impulse geben konnte. Als Lenin, bereits krank und von der praktischen Führung der Partei ausgeschlossen, im Dezember 1922 den Vorschlag machte, das ZK zu erweitern und so für mehr Stabilität zu sorgen, standen ihm die drohenden Spaltungen an der Parteispitze vor Augen. Getrieben von ähnlichen Befürchtungen, hoffte Gramsci, in einem nie an seinen Adressaten, das ZK der KPR, gelangten Brief, man werde, um »die Einheit und die Disziplin« aufrechtzuerhalten, »außerordentliche Maßnahmen« vermeiden.

Die Hoffnung wurde enttäuscht, die Tragödien folgten aufeinander: als erste, vorangehende, der »Kronstädter Aufstand« im März 1921 und seine gewaltsame Niederschlagung;  kurz nach Lenins Tod der ›totale‹ Sieg über Trotzki; der stalinsche Terror, dem die alte Garde der Bolschewiki fast komplett zum Opfer fiel; die Abgründe der Realpolitik mit dem Hitler-Stalin-Pakt; der Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg«, mit seinen ca. 25 Mio Toten zugleich eine ungeheure Tragödie; die Exkommunikation Jugoslawiens, das an einem eigenen Entwicklungsweg festhielt (vgl. Arg. 317); ein ›Tauwetter‹, dem die Interventionen gegen die von der ›richtigen‹ Linie abweichenden sozialistischen ›Bruderländer‹ folgten, Ungarn zuerst, dann die Tschechoslowakei; Zwang als einziges Mittel zur Wiederherstellung einer ›Einheit‹, die mit innerer Distanzierung, Entfremdung, resigniertem Sich-Einrichten in den Verhältnissen, deren Gestaltung doch die Sache aller sein sollte, erkauft war. Der etatistisch versteinerte Sozialismus – eine »Apathiemaschine« (W. F. Haug). Die kapitalistischen Länder, die dem Kommunismus den Konsumismus entgegensetzten – eine schöne neue Welt, in der die Lichter der Reklame nie ausgingen. Die Hauptstadt der DDR präsentierte sich dagegen mit schlecht beleuchteten Straßen, mager bestückten Schaufenstern und Restaurants, in denen man von der Gnade des Obers abhing.

Kapitalismus- und Gesellschaftskritik im Westen wurden reflexhaft abgewehrt, indem man den realen Sozialismus aufs repressive Erscheinungsbild von Arbeitslager, Staatssicherheit und Ausbürgerung reduzierte. Wie die Grenze, die mauergeschützt Berlin durchzog, vermint war, so die Grenze, auf die jede kritische Beschäftigung mit der Dialektik des Systemgegensatzes stieß. »Geh doch rüber«, war die stereotype Antwort, wenn man sich unterstand, an der DDR, die die ­Springer-Presse stets nur mit der Zange der Anführungszeichen anfasste, ein gutes Haar zu lassen. Der Kalte Krieg, der das ausschließende Entweder-Oder als Grundhaltung verordnete, mithin die Widerspruchsanalyse unter Generalverdacht stellte, konfrontierte die Linke im Westen stets aufs Neue mit der zerreißenden Gretchenfrage: Wie hältst Du’s mit dem Kommunismus?

So auch diese Zeitschrift. Den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in die ČSSR kommentierte sie mit gleich drei gegensätzlich-komplementären Editorials, in denen sie den gespaltenen Reaktionen auf dieses Ereignis Ausdruck gab. Auch wenn »wir«, schreibt Günther Anders, mit den Regierungen im Westen, deren Politik wir bekämpfen, nun plötzlich eine »geschlossene Front« zu bilden scheinen, darf uns das nicht davon abhalten, »unserer Empörung über das Unrecht, das stattgefunden hat […], unzweideutig Ausdruck zu geben« (Arg. 48/1968, 261). Was »wir zu tun haben, das ist nicht, den Sozialismus, sondern dessen Degeneration zu bekämpfen; und die Selbstzerstörung des Sozialismus zu verhüten« (262). Wolf Haug hob auf die in der Bundesrepublik ausgelöste Überflutung »mit den unglaublichsten Gerüchten und Falschmeldungen« ab, die darauf abzielten, diejenigen, die ob des Kriegs der Amerikaner in Vietnam gegenüber den Selbstrechtfertigungen der ›Freien Welt‹ auf Distanz gegangen waren, wieder auf Linie zu bringen. Fürs Argument folge daraus, sich »von der ›links­liberalen‹ Öffentlichkeit unabhängiger« zu machen (263). Friedrich Tomberg sah zwar, dass sich sozialistische Politik »nicht im Erringen und Bewahren der Macht« erschöpft, sondern »auch gegenüber Andersdenkenden« überzeugen muss, doch hielt er den Prager Reformern vor, sie müssten sich von den Sowjets – anscheinend in Gestalt des Einmarschs – sagen lassen, dass der Sozialismus »die Macht, die er einmal errungen hat, nicht wieder aufs Spiel setzen« dürfe (265).

Der Machterhalt gelang momentan. Die Revolutionen von 1989/1991 schlugen in Restauration des Kapitalismus um und machten dem europäischen Staatssozialismus ein Ende. In der Gegenwart ist der bolschewistische Feind verschwunden und durch den muslimischen Immigranten als Hassobjekt ersetzt. Die kapitalistische Produk­tionsweise, entgrenzt und potenziert durch den Wegfall der sozialistischen Länder und durch die digitale Hochtechnologie, bringt mit dem Reichtum noch immer die Armut hervor – riesige Armutszonen, deren Bewohner mit Extraprofit ausgebeutet werden, vorausgesetzt, das anlagesuchende Kapital macht sich auf den Weg zu ihnen. Ein zweifelhaftes Glück. Bulgarien, das zum Billiglohnland innerhalb der EU geworden ist, leidet an schwindender Bevölkerung, denn der Sog in die reicheren Zonen nimmt dem Land, was es am dringendsten braucht: die Jüngeren und gut Ausgebildeten. Wenn die DDR als Frontstaat im Kalten Krieg auf den Sog der Abwanderung einst mit dem Bau einer Mauer reagierte, so heute mit umgekehrtem Vorzeichen die EU, die das Mittelmeer als ›natürliche‹ Barriere gegen die Fliehenden aus den Krisen- und Kriegsgebieten des Nahen Ostens und Afrikas nutzt. Die Mauer, die in Israel gegen die Palästinenser gebaut wird, ebenso wie die projektierte, die die USA gegen Mexiko abschotten soll, entspringt einer primitiven Phantasie, die nichts anderes kennt als die Sicherung des Status quo der globalen Ungleichheitsverhältnisse. »Amerika zuerst«, »Deutschland den Deutschen« – es sind Grenzziehungen gegen den Standpunkt der »menschlichen Gesellschaft« oder »gesellschaftlichen Menschheit«, wie der bald zwei Jahrhunderte alte Marx, der Gegenwart weit voraus, in den Feuerbachthesen sagt. Drastisch in die Höhe getriebene Militärausgaben, die der US-Präsident seinem Land und den Bündnispartnern verordnet, haben noch stets die Kriegsgefahr erhöht. Der Widerstand gegen die atomare Bewaffnung, die heute in einem historischen Zurück wieder ausgebaut werden soll, war Ende der 1950er Jahre einer der Gründungsimpulse dieser Zeitschrift.

Die von Rosa Luxemburg formulierte Alternative – Sozialismus oder Barbarei – »erscheint heute als erschreckend realistisch und konkret«, schreibt Enzo Traverso in diesem Heft. Die Erfahrung, dass die Barbarei auch auf der Seite des Sozialismus auftauchen kann, bedarf der von Günther Anders praktizierten Haltung schonungsloser Kritik dessen, was er als »Degeneration« des Sozialismus wahrnahm. Sie ist als rettende Kritik die Grundlage, auf der diese Zeitschrift arbeitet. Auf ihr allein kann Zukunft gewonnen werden. Das Thema wird daher weder mit diesem Heft noch mit dem Gedenkjahr für uns erledigt sein. Aber vor welchen noch unbeantwortbaren Fragen finden wir uns da? In welche neuen, glaubwürdigen Formen und Wege hinein lässt sich das Unabgegoltene retten? Der Schalksnarr, der auf dem Umschlag dieses Hefts melancholisch-skeptisch auf die Geschichte der letzten hundert Jahre und die weitere Perspektive blickt, steht für uns, die wir diese Frage stellen.

Man findet in diesem Heft eine zweite Besprechung von Wolf-Dieter Narrs Niemands-Herrschaft – nicht deshalb, weil wir die erste von Peter Kammerer (Arg. 314, 752ff) für ergänzungsbedürftig hielten, sondern weil wir damit einen Freund, der in diesem Jahr 80 Jahre alt wird und leider schwer krank ist, und ein ungewöhnliches Buch ehren wollen. Ungewöhnlich durch den Versuch, ein kritisches Herrschaftsdenken zu erarbeiten, das »weder ›einfache Revolutionen‹, noch eher schlichte emanzipatorische ›Befreiungen‹« propagiert, sondern versucht, den »Problemhaufen ›Niemands-Herrschaft‹ […] halbwegs radikaldemokratisch durchzuschütteln« (Narr, 308).   PJ

 

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Sabine Plonz, seit 2009 Redakteurin und Mitglied der feministischen Redaktions­gruppe und seit 2015 Mitherausgeberin der Zeitschrift, hat nach Abschluss des letzten von ihr herausgegebenen Heftes (320) ihre Mitarbeit beendet. Sie schreibt uns dazu:

»Nach sieben Jahren Mitarbeit habe ich mich entschlossen, aus dem Herausgeberkreis und der Redaktion des Argument auszuscheiden. Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, weil die Zeitschrift in Verbindung mit dem Wörterbuch ein beeindruckendes intellektuelles und jederzeit lehrreiches Projekt ist und weil wir in den wechselnden Redaktionsteams kollegial und freundschaftlich zusammengearbeitet haben, auch wenn es dabei manchmal aufreibend zugeht. Doch ich merke, dass mir die vorgegebenen Arbeitsformen, Strukturen und Erwartungen für andere Dinge, die ebenfalls wichtig sind und einen klaren Kopf verlangen, zu wenig Raum und Kräfte lassen. Die Möglichkeiten des Engagements sind individuell und je nach Lebensphase verschieden, sie werden mit Blick auf die in einem solchen Projekt anstehenden Aufgaben immer neu ermittelt und miteinander ausgehandelt. In diesem Abstimmungsprozess bejahen wir nach meiner Wahrnehmung in der Redaktion die im Argument schon so lange geltenden kritischen und professionellen Ansprüche. Wir finden aber derzeit keinen Konsens über das Ob und Wie von Veränderungen, um diese Ansprüche in den aktuellen Rahmenbedingungen auch weiterhin zu verwirklichen. Ich hoffe daher, dass die Redaktion meinen Schritt akzeptiert und wünsche der Zeitschrift und allen, die wir darin und darüber hinaus im InkriT zusammengearbeitet haben, alles Gute, Kraft, Zuversicht und Gelassenheit.«

Wir bedauern Sabines Abschied und danken ihr herzlich für ihr Engagement.

Die Herausgeber