„Die Kinder gehen jetzt zur Schule“

Aspirationen, Entwicklungsdiskurs und Schulbildung in Lodwar, Nordkenia von 1989-2022

Keywords: education promise, education for all, Northern Kenya, aspirations

Schlagwörter: Bildungsversprechen, Bildung für alle, Nordkenia, Aspirationen

Zukunftsvorstellungen sind in vielen Familien mit der Zukunft der Nachkommen, von Kindern und Enkelkindern verknüpft. Während Hoffnungen und Erwartungen an die nächste Generation in vielen Ländern des Globalen Nordens von Familientraditionen, Geschlechterstereotypen und Klassenzugehörigkeit geprägt sind, sind diese in Ländern des Globalen Südens zudem eng mit Entwicklungsdiskursen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verbunden. Eine besondere Rolle kommt dabei westlicher Schulbildung zu. Erfolgreich die Schule zu absolvieren, erscheint in diesem Diskurs nicht nur in Bezug auf die eigene Zukunft, sondern auch auf die Entwicklung der Gesellschaft und der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme als alternativlos. Diese Verknüpfung von westlicher Schulbildung, Aspirationen und Hoffnung auf eine bessere Zukunft findet sich auch in Interviews, die ich seit 2017 in Lodwar (Nordkenia) mit Frauen, die ich zu Beginn der 1990er Jahre kennengelernt hatte, und ihren inzwischen erwachsenen Kindern geführt habe. In der Reflexion der Veränderungen im Leben meiner Gesprächspartnerinnen und den sozialen und ökonomischen Veränderungsprozessen, die ich bei meiner Rückkehr nach Lodwar beobachten konnte, fällt nicht nur auf, dass die damals mit dem Schulbesuch der Kinder verbundenen Erwartungen oft nicht erfüllt wurden. Ebenso wurde sichtbar, dass die Erwartungen trotz allem weiterbestehen, die Vorstellung einer besseren Zukunft prägen und alternativlos geworden sind. Die von mir befragten Familien in Lodwar hoffen nicht mehr auf eine Rückkehr in das Nomadengebiet und ein Fortbestehen der mobilen Viehwirtschaft oder versuchen städtisches, sesshaftes Leben mit der mobilen Viehwirtschaft zu kombinieren, indem sie einige Kinder zur Schule, andere in das Nomadengebiet schicken (Schultz 1996; 1997; 2000), sondern setzen alles auf ein städtisches Leben und auf die Schulbildung ihrer Kinder. Dieses Phänomen ist nicht nur in Lodwar zu beobachten, 307ff, und Erdmute Alber in diesem Heft, S. 347ff). Die Ursachen sind vielfältig und je nach historischem und sozioökonomischem Kontext eng mit der kolonialen Vergangenheit, entwicklungspolitischen Diskursen und der ökonomischen und politischen Entwicklung des jeweiligen Nationalstaats verknüpft.

Im Fall der Turkana, einer ethnischen Gruppe, die im Norden Kenias lebt, spiegelt der Glauben an westliche Schulbildung zudem die radikale Veränderung gesellschaftlicher Institutionen und Praktiken und die andauernde und sich verschärfende Krise der mobilen Viehwirtschaft wider. Der Widerstand vieler Turkana gegen formale Schulbildung, den ich noch zur Zeit meiner Feldforschung von 1989-1994 beobachten konnte, und der Wunsch, in das Nomadengebiet zurückzugehen, sind heute kaum noch vorzufinden. Diesen Veränderungsprozess, demzufolge Schulbildung mehr und mehr zum Leben der Menschen gehört und die Zukunft der Familie und der Kinder zunehmend nicht mehr außerhalb von formalen Bildungsverläufen imaginiert werden kann, werde ich anhand der Bildungsverläufe der Kinder einiger Frauen, mit denen ich seit Beginn der 1990er Jahre im Gespräch bin, darstellen. Dabei beziehe ich mich auf Arjun Appadurais Begriff der „Aspiration“ (Appadurai 2013). Bei einer Aspiration handelt es nicht um ein konkretes Ziel oder eine konkrete Erwartung, sondern um die Imagination einer Zukunft. Die Fähigkeit zur Aspiration ist keine individuelle Fähigkeit, sondern verbunden mit einem sozialen Rahmen, die dieser Aspiration Sinn verleiht (ebd.: 187). Im Kontext meiner Gesprächspartner*innen ist der sinnstiftende soziale Rahmen für die mit westlicher Schulbildung verbundenen Aspirationen der Nationalstaat Kenia, in dem sozialer Aufstieg und Entwicklung mit Bildungsabschlüssen verknüpft wird. Gleichzeitig hängt das ökonomische Überleben vieler Menschen jedoch von ihren Verbindungen zur mobilen Viehwirtschaft und von Tätigkeiten im informellen Sektor ab. Daher stellt sich die Frage, ob für einige Gesprächspartner*innen die Fokussierung auf Schulbildung und die damit verbundenen Aspirationen in eine Sackgasse führen und Armut und Marginalisierung perpetuieren.

Um die von mir beschriebenen Bildungsverläufe in meinem Forschungskontext zu verorten, werde ich im Folgenden zunächst über meine Feldaufenthalte und meine Rolle im Leben der Protagonist*innen reflektieren. Danach werde ich kurz diskutieren, wie Zukunft im Kontext einer marginalisierten Region in einem Nationalstaat, in dem Entwicklungsdiskurse Aspirationen und Erwartungen vieler Menschen prägen, konzeptualisiert wird, um schließlich am Beispiel von Longor und Elim, Rebecca und Vicky sowie Awoi und Ingolan[1] über (Schul-)Bildungsverläufe, erfüllte und enttäuschte Erwartungen, Aspirationen und Zukunftsaussichten meiner Gesprächspartner*innen zu reflektieren.

Beziehungen und Verpflichtungen: Feldforschungsaufenthalte in Lodwar von 1989-2022

Im Methodenkapitel meiner Doktorarbeit schrieb ich über meine Feldforschungsaufenthalte in Lodwar, die sich über fünf Jahre (1989-1994) erstreckten:

„Die mehr zufällig entstandene Verteilung der Feldforschungsaufenthalte erwies sich im Nachhinein als vorteilhaft. Der lange Zeitraum und das regelmäßige Wiederkommen hat mir nicht nur das Beobachten von Schicksalen über eine lange Periode ermöglicht, sondern mir auch einen Platz in der Gesellschaft verschafft, den ich sonst nicht hätte einnehmen können.“ (Schultz 1996: 22)

Am Ende des Kapitels resümiere ich:

„Ich habe aber auch erfahren, dass trotz aller Bemühungen und Fortschritte einander näherzukommen, immer etwas im Dunkeln bleiben wird, dass sich unser Verstehen immer erst am Anfang befindet. Schon deshalb wird mein Wiederkommen auch dann auf der Tagesordnung stehen, wenn diese Arbeit abgeschlossen sein wird.“ (ebd.: 29f)

Diese Reflexionen über die Erfahrungen während meiner Feldforschungsaufenthalte klangen zum Zeitpunkt des Schreibens meiner Doktorarbeit nicht nur plausibel, sondern beinhalteten auch eine Reihe von Verpflichtungen und Annahmen, die heute fast 30 Jahre später, zu einigen Nachfragen und Überlegungen führen.

Zunächst einmal stand mein Wiederkommen nicht auf der Tagesordnung, zumindest ist es mir über einen langen Zeitraum nicht gelungen, wieder nach Lodwar zu reisen. 1994 rechnete ich nicht mit prekären Arbeitsverhältnissen, familiären Verpflichtungen sowie mit beruflichen Aufgaben (inklusive anderer Reiseziele), die es mir schwermachten, regelmäßig nach Lodwar zu reisen. Anlässlich einer Reise nach Äthiopien konnte ich zwar schon kurz nach der Doktorarbeit für einige Tage Lodwar besuchen, aber dann dauerte es 15 Jahre, bis ich während eines Aufenthalts im Flüchtlingslager in Kakuma 2011 einen kurzen Abstecher nach Lodwar machen konnte und dort einige meiner Gesprächspartnerinnen wiedertraf. Schließlich kehrte ich erst 2015 für einen längeren Aufenthalt nach Lodwar zurück und fand Schritt für Schritt frühere Gesprächspartnerinnen und Vertraute wieder.

Was ist in all den Jahren aus den Beziehungen geworden, die ich damals geknüpft habe? Auch wenn mir zum Zeitpunkt meiner Aufenthalte in den 1990er Jahren bewusst war, dass in der Vorstellung der Frauen die Beziehungen verbindlich und auf Dauer angelegt waren, gelang es mir über die Jahre nicht, alle Freundschaften zu pflegen und meinen Verpflichtungen gerecht zu werden. Schon bevor ich 2011 zurückkehrte, wurde ich auf die Bedeutung der damals geknüpften Beziehungen hingewiesen. Elim, mit dessen Mutter ich eng verbunden war und für den ich die Schulgebühren für die Sekundarschule in Lodwar und später für ein College in Nairobi bezahlt hatte, fand meine E-Mail-Adresse im Internet und schrieb mir, so dass wir uns schon vor meiner Rückkehr nach Lodwar mehrere Male in Nairobi getroffen hatten. Auch die nach mir benannte Ulrike[2], die 1992 während eines meiner Feldforschungsaufenthalte geboren wurde, versuchte kurz vor meiner Rückkehr 2011 Kontakt zu mir aufzunehmen. Während im Fall Elims hinter der Kontaktaufnahme die Anerkennung meines Beitrags zur erfolgreichen abgeschlossenen Schulbildung und dem damit verbundenen beruflichen Erfolg stand, steckte hinter Ulrikes Kontaktaufnahme der Versuch, doch noch eine Beziehung zu ihrem Namen herzustellen und diese Person in ihr Leben einzubinden.

Beides deutet auf die kollektive Verantwortung für die Bildung und Erziehung von Kindern (im Fall von Ulrike bin ich dieser Verantwortung nicht gerecht geworden) und auf die Vielzahl von Unterstützer*innen und Mentor*innen im Verlauf vieler (erfolgreicher) Schulkarrieren hin. Individuelle Schulverläufe spielen sich in großen Netzwerken wie einer erweiterten Familie mit Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln aber auch in einem weiteren Kreis von Unterstützer*innen wie individuellen Sponsor*innen, NGOs, Kirchen und staatlichen Institutionen ab. Dies umfasst nicht nur die finanziellen Anforderungen, sondern auch Mentoring oder die Aufnahme und Versorgung eine*r Schülerin*in der Stadt. In meinen Gesprächen mit den Frauen und ihren inzwischen erwachsenen Kindern, denen ich während meiner ersten Feldforschungsaufenthalte begegnet war, wurde deutlich, dass ich in einigen Fällen auch Teil dieser Beschulungsnetzwerke geworden war. Meine Rolle beschränkte sich zum Teil darauf, während meines Aufenthalts kleinere Beträge an Lehrer*innen und Schulen zu bezahlen oder die obligatorische Schuluniform zu finanzieren. In einigen Fällen wuchs mir die Rolle der Sponsorin zu.

Trotz der großen Bedeutung, die der Schulbesuch ihrer Kinder in der Interaktion mit meinen Gesprächspartnerinnen einnahm, waren die damit verknüpften Erwartungen kein zentrales Thema in den von mir geführten Interviews. Dies lag zum einen an meinem Forschungsinteresse, das zunächst in den Geschlechterarrangements der Turkana (Scholz & Schultz 1994) lag und später die sozialen und ökonomischen Beziehungen sesshaft gewordener Frauen in der Stadt im Blick hatte. Die mit dem Schulbesuch verbundenen Erwartungen wurden möglicherweise nicht erwähnt, da sie von mir nicht angesprochen wurden und mich nicht zu interessieren schienen. Zum anderen war dies jedoch auch der Situation meiner Gesprächspartnerinnen geschuldet. Viele Frauen lebten noch nicht lange in Lodwar und hatten das Nomadengebiet während der Dürreperioden Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre verlassen. Sie waren damit beschäftigt, sich einen Lebensunterhalt in der Stadt aufzubauen oder ihre Rückkehr in das Nomadengebiet vorzubereiten (Schultz 1996). Die Erzählungen der Frauen zirkulierten daher um ihre Beziehungen zum Nomadengebiet, den Aufbau sozialer Beziehungen in der Stadt, Viehbesitz und ihre Einkommensmöglichkeiten. Einige Frauen überlegten, welche Kinder in die Schule gehen sollten und welche nicht. Fast alle Frauen, mit denen ich darüber sprach, sahen ihr Leben in der Stadt jedoch eher als temporär an und ihre Zukunft erneut im Nomadengebiet und in der mobilen Viehwirtschaft. Auch für Frauen, die die Hoffnung verloren hatten, in das Nomadengebiet zurückzukehren, schien der Schulbesuch ihrer Kinder nicht mit großen Erwartungen verbunden zu sein. Aus meinen Tagebuchnotizen wird deutlich, dass besonders Grundschulen als Orte gesehen wurden, in denen Kinder betreut werden und eine warme Mahlzeit bekommen. Für einige Frauen symbolisierte der Schulbesuch ihrer Kinder darüber hinaus das städtische (moderne) Leben. Dies war insbesondere bei jüngeren Frauen der Fall, die ich über ihre Arbeit in einer Frauenkooperative kennengelernt hatte. Die Kooperative lag in Nawoitorong, einem der Manyattadörfer[3], die den damals noch sehr kleinen Stadtkern von Lodwar umzingelten. Die Bewohner*innen von Nawoitorong und ihre Migrationsgeschichten spiegelten für mich die komplexen Beziehungen zwischen Stadt und Nomadengebiet, mobiler Viehwirtschaft und städtischen Einkommensmöglichkeiten sowie Subsistenz- und Marktproduktion wider, die ich in meiner Doktorarbeit beschrieben habe. Viele der in Nawoitorong lebenden Frauen versuchten zur Zeit meiner Feldforschung ein Leben in der Stadt aufzubauen und gleichzeitig ihre Beziehungen in das Nomadengebiet aufrechtzuerhalten. Für viele Familien eröffnete der Schulbesuch eines Kindes die Möglichkeit in der Zukunft ein sicheres Standbein außerhalb der mobilen Viehwirtschaft aufzubauen und damit das Überleben im Nomadengebiet zu sichern. Demgegenüber stand westliche Schulbildung im Diskurs vieler NGOs, der Expatriates der Norwegian Agency for Development Cooperation (NORAD) und anderer Organisationen aus dem Globalen Norden sowie staatlichen Institutionen wie dem Sozialministerium für einen Bruch mit der mobilen Viehwirtschaft und dem Leben vieler Menschen in Lodwar, das von lokalen Praktiken und den Institutionen der Turkana bestimmt war. Die erwähnte Frauenkooperative in Nawoitorong[4], bei der ich zeitweise wohnte und zu deren Mitgliedern ich über viele Jahre engen Kontakt pflegte, spiegelte diese widersprüchlichen Diskurse und Lebenswelten wider. Initiiert wurde die Gründung der Gruppe von Inga, einer Schwedin, die mit ihrem Mann, einem NORAD Mitarbeiter, nach Lodwar gekommen war. Inga hatte Kontakt zu einigen jungen Frauen, die Englisch sprechen konnten und zur Schule gegangen waren, aufgenommen und mit diesen die Gruppe aufgebaut. Finanzielle Unterstützung bekam die Gruppe vom Sozialministerium sowie von NORAD und anderen entwicklungspolitischen Organisationen. Die Gruppe hatte zum Zeitpunkt meines Aufenthaltes zwischen 19 und 22 Mitglieder, betrieb einen kleinen Laden, eine Bäckerei und ein Gästehaus und produzierte am Ufer des Turkwell Ziegel für den Hausbau. Während auch ältere Frauen Mitglied der Gruppe waren, war die Vorsitzende Cecilia eine junge Frau Anfang 20 mit einem Schulabschluss. Cecilia war von Inga ernannt worden und wurde von ihr als Vorbild herausgestellt. Cecilias Führungsanspruch stand für viele Frauen in der Gruppe für das moderne Zeitalter, in dem Schulbildung über Seniorität steht, und symbolisierte die Entwertung des Wissens und der Erfahrung älterer Frauen, die als Nomadinnen gelebt und nie eine Schule besucht hatten. In Gesprächen mit Inga und anderen Unterstützer*innen der Kooperative zeigte sich, dass für sie die Modernisierung der Lebensverhältnisse der Frauen und ihre Einbindung in staatliche und marktwirtschaftliche Institutionen im Mittelpunkt standen. Das Ziel der Kooperative wurde nicht nur in Einkommensmöglichkeiten für Frauen in der Nachbarschaft im Hier und Jetzt gesehen, sondern auch mit einer in die Zukunft gerichteten Modernisierung der Lebensverhältnisse in Verbindung gesetzt, bei der dem Schulbesuch der Kinder eine zentrale Rolle zukommt.

Während diese Verknüpfung von Bildung mit Entwicklung und Modernisierung zur Zeit meiner Feldforschungsaufenthalte zwischen 1989 und 1994 eher bei Expert*innen und wenigen jüngeren Frauen in der Kooperative, die zur Schule gegangen waren, vorzufinden war, findet sich dieser Diskurs durchgängig in den Interviews, die ich nach meiner Rückkehr seit 2017 durchgeführt habe. Nicht nur die mit westlicher Schulbildung verknüpften Erwartungen, sondern Zukunftsvorstellungen ganz allgemein sind vom Entwicklungsdiskurs geprägt. Wie auch andere Studien zeigen, wird westliche Schulbildung als der Katalysator für Modernisierung und Entwicklung der Gesellschaft (McLean 2020: 151; Maurus 2016; Laube 2016) und der Integration in den Nationalstaat wahrgenommen.

Rückkehr ins Feld: Erinnerungen, Rückblicke und Veränderungen

„Wir sind heute Morgen nach Nadapal in Loima gefahren, wo Arupe lebt. Fatma (meine Übersetzerin) hatte Arupe auf einem Foto erkannt. … Arupe kam auf mich und Fatma zu und musterte mich. Zuerst sagte sie zu Fatma, dass sie diese Frau nicht kenne, aber schließlich schrie sie auf und umarmte mich. Sie sagte, dass sie mich zunächst nicht erkannt hatte, weil ich damals schlank und jung war und jetzt dick und alt sei. Sie erzählte später auch, dass sie mich vor zwei Jahren in der Stadt mit einem anderen mzungu[5] gesehen hatte, und dachte, sie könnte mit mir reden. Ich frage mich, ob sie mich begrüßt hat und ich sie nicht erkannt habe. Ich erinnere mich kaum an sie. Ich fragte sie, wie es ihr ergangen sei und was sich in ihrem Leben und dem Leben ihrer Familie abgespielt hat, seit ich sie nicht mehr gesehen habe. Die 25 Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben, vergingen für Arupe, ohne dass viel passierte. Sie hat nur darüber gesprochen, wer gestorben ist. Die Frage nach der Veränderung in ihrem Leben beantwortete sie nicht wirklich.“ (Tagebuchnotiz, 27.11.2017)

Diese Tagbuchnotiz über mein Wiedersehen mit Arupe zeigt die Ungleichzeitigkeit des Erinnerns auf. Während Arupe sich sehr genau an mich erinnern konnte, als sie mich in der Stadt sah, ist sie mir in Vergessenheit geraten. Die Bedeutung, die ich für ihre Familie hatte, und die sich beispielsweise dadurch zeigt, dass ihre Schwester Lele ihren Sohn nach mir benannt hat, war mir nicht bewusst. Lele und Arupe (anders als ihre Mutter Agiron) spielen in meiner Doktorarbeit keine bedeutende Rolle und gerieten dadurch in Vergessenheit. Inzwischen sind beide zu zentralen Gesprächspartnerinnen avanciert und ich kann mir nicht vorstellen, sie je zu vergessen. Indem ich sie interviewe, ihre Aussagen analysiere und über sie schreibe, werden sie zum Teil meines Lebens. Anders stellt sich dies im Fall von Awoi, eine meiner wichtigsten Protagonist*innen, dar. Awoi und ihre Freundin Asuchon sind fester Bestandteil meines Erinnerns an die Zeit, die ich in Lodwar als junge Wissenschaftlerin verbrachte. Awois Leben und ihre Beziehung zu ihrer Freundin Asuchon spielen in meiner Doktorarbeit als Vertreter*innen des Typ 2 – Frauen für welche die Umsiedlung in die Stadt eine Übergangslösung darstellt (Schultz 1996: 202ff) – eine bedeutende Rolle und haben sich für immer in meine Erinnerung eingeprägt. Awoi war eine der ersten Personen, die ich mit Hilfe einiger Freundinnen bei meiner Rückkehr im Jahr 2017 in der Stadt suchte. Auch hier wurde ich mit Hilfe eines Fotos fündig. Eine Frau aus Napetet[6], die meine Forschungsassistentin und ich auf der Straße ansprachen, erkannte Awoi und führte uns zu ihrer Tochter Ingolan. Es dauerte jedoch noch ein weiteres Jahr, bis ich Awoi schließlich traf. Awoi kommentiert dies in einem Interview, das ich nach unseren ersten Wiedersehen mit ihr führte:

„Ich hatte dich vergessen und konnte mich an nichts mehr erinnern. Als du mich gesucht hast, war ich nicht hier…Das jüngste Kind erzählte mir, dass eine Frau, die keine Turkana ist, hier war und nach mir gesucht hat und dass sie mit Ingolan zurückgegangen ist, und dass diese Frau sagte, sie habe mich einmal in Napetet besucht und so kam meine Erinnerung zurück. Von da an wusste ich, von wem sie sprach. Aber wann war das? Das war vor langer Zeit, als sie einige Fotos von uns machte, als wir in Lorikot Napetet waren. Ich wusste, dass sie es war.“ (Awoi, 26.8.2018)

Awois und Arupes Reaktion auf mein Wiederkommen fallen bezüglich ihrer Erinnerung an mich somit recht unterschiedlich aus. Während Arupe mich in der Stadt erkannt hatte, kommt Awois Erinnerung erst in einem Prozess des gemeinsamen Erinnerns zurück. Allerdings zeigt sich in den Interviews, die ich mit Hilfe einer Übersetzerin mit ihnen geführt habe, dass es für beide gleichermaßen schwer ist über die Zeit zu berichten, in der wir uns nicht gesehen haben. Sie beschreiben ihr Leben als eine Abfolge von alltäglichen Ereignissen, die durch Marginalisierung und Armut gekennzeichnet sind. Lele, Arupes Schwester, antwortet auf meine Frage nach ihrer Lebensgeschichte: „Das Leben besteht aus einem auf und ab.“ (Interview mit Lele 1.12.2017) Und Arupe (Interview mit Arupe, 27.11.2017) erläutert: „Für Menschen mit Geld hat sich das Leben geändert, aber für arme Leute wie mich gibt es keine Veränderungen.“ Dieser Gedanke wird von vielen Gesprächspartner*innen aufgenommen. Veränderung ist auch auf der persönlichen Ebene mit Entwicklung im Sinne einer Verbesserung bzw. Modernisierung der Lebensumstände verbunden. Wenn das nicht eingetreten ist, erscheint die Lebensgeschichte nicht erzählenswert, es gibt nichts zu erinnern.

Anders als in Bezug auf ihr persönliches Leben verweisen alle Gesprächspartner*innen auf Veränderungen (und Entwicklung) in Lodwar bzw. in der Nachbarschaft, in der sie leben. Rebecca, eine Frau aus der Kooperative in Nawoitorong, betont:

„Ich finde, es hat sich verändert, und man kann es nicht mit jenen Jahren vergleichen. Das Gesicht von Nawoitorong hat sich seit der Ankunft der Bezirksregierung[7] verändert, und das ist der Grund, warum es hier so viele Gebäude gibt.“ (Interview mit Rebecca, 12.8.2019)

Rebecca spricht hier das Offensichtliche an: geteerte Straßen, viele neue Häuser und der Zuzug vieler Menschen. Auch für mich hat sich ihre Nachbarschaft auf den ersten Blick verändert. Auf meine Frage, wie sie den stattgefundenen Wandel bewertet, antwortet sie jedoch etwas unerwartet:

„Für mich ist es eine gute Veränderung. Das Leben ist nicht mehr so wie früher, sogar die Kinder gehen zur Schule, viele von ihnen gehen jetzt zur Schule.“ (Interview mit Rebecca, 12.8.2019)

Rebeccas Aussage erstaunte mich deshalb, weil wir noch kurz davor über die mit dem Wandel verbundenen Probleme gesprochen hatten, wie z.B. den sich auflösenden Zusammenhalt in der Nachbarschaft. Zudem berichtet Rebecca, dass einige Nachbarinnen mit den Ansprüchen Zugezogener auf das Land konfrontiert sind, auf dem sie ihr Manyatta gebaut haben. Sie können die Ansprüche vor Gericht nicht geltend machen, da ihr Name nicht im Landregister der Stadt eingetragen ist. In Rebeccas Aussage zeigt sich, dass sie Wandel als Entwicklung und Modernisierung versteht und mit allgemeiner Beschulung unter dem Motto education for all verbindet. Schulbesuch wird als positiv bewertet und nicht mit anderen Veränderungen, die häufig als negativ empfunden werden, in Verbindung gebracht.

Mit diesem Entwicklungsnarrativ geht auch eine Entwertung lokaler Praktiken, Institutionen und Formen der Zugehörigkeit einher. Viele Kinder (und junge Erwachsene) in Lodwar sprechen nicht mehr Turkana. Institutionen zur Konfliktregelung in Familien haben an Bedeutung verloren. Durch die Beschulung der Kinder und Jugendlichen werden die Turkana in den Nationalstaat integriert. In den Schulen treffen sie auf Lehrer*innen aus anderen Teilen Kenias, die häufig die Lebensweise der Turkana missachten und das Ziel verfolgen, die Kinder zu „zivilisieren“ (Schultz 2022). In der Schule erfolgreiche Kinder kommen in Internatsschulen außerhalb des county und werden dort mit Vorurteilen gegenüber den Turkana konfrontiert. Während zur Zeit meiner ersten Feldforschungsaufenthalte Grundschüler*innen überwiegend Tagesschulen vor Ort besuchten, ist es heute üblich schon am Ende der Grundschulzeit in den Internatsbereich der Schulen zu wechseln, um bei den anstehenden Abschlussprüfungen konkurrenzfähig zu sein. Darüber hinaus gehen immer mehr Turkanakinder in eine Sekundarschule, die meist Internatsschulen sind. Generell gilt die 100 percent transition policy, die allen Kindern den Besuch einer Sekundarschule ermöglichen soll. Aufgrund fragmentierter Schulverläufe – Kinder werden z.B. nach Hause geschickt, wenn sie die Schulgebühren nicht bezahlen können – verlassen Turkana häufig erst im jungen Erwachsenenalter die Schule. Sie haben so einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend außerhalb ihrer Familie verbracht. Erwachsene geben ihre Fähigkeit und ihr Wissen kaum noch an Kinder und Jugendliche weiter. Aus Turkanakindern werden zunehmend kenianische Staatsbürger*innen, deren Werte und Aspirationen vom Entwicklungsdiskurs geprägt sind. Dies beinhaltet eine starke Abgrenzung von der Lebensweise ihrer Eltern, der mobilen Viehwirtschaft und den Bräuchen der Turkana.

Dies wird auch in anderen ethnografischen Studien über Schulen im Globalen Süden aufgezeigt. Nationalstaaten versuchen, Bildung zur Förderung der nationalen Kultur einzusetzen. Als Ergebnis der formalen Bildung identifizieren sich junge Menschen mit dem Nationalstaat und distanzieren sich von lokalen Kulturen und alternativen Formen der Zugehörigkeit (u.a. Maurus 2016; Stambach 2000). In diesem Prozess werden alternative Lebensgrundlagen diskreditiert und spielen in den Aspirationen gebildeter junger Menschen keine Rolle. Dies gilt insbesondere für Pastoralist*innen (Maurus 2016: 9; Lesorogol 2008). Ihre Lebensweise wird nicht nur vom Staat, sondern auch von jungen Menschen aus mobilen Viehhaltergesellschaften, die zur Schule gehen, als „rückständig“ oder nicht zivilisiert wahrgenommen (Maurus 2016: 13; Switzer 2018: 9). Heather D. Switzer (2018: 13) argumentiert in einer Studie über Maasai-Schülerinnen und ihre Zukunftsvisionen, dass Maasai als außerhalb von „den Gebildeten“ und „den Entwickelten“ konstruiert werden. Sie „werden buchstäblich nicht als Personen betrachtet und stehen daher natürlich außerhalb des aufstrebenden Lebens der Nation“ (Switzer 2018: 13, Übers. US). Indem sie zur Schule gehen, beanspruchen junge Menschen ihre Persönlichkeit und ihr Recht auf Individualität. Dies steht jedoch häufig nicht nur im Widerspruch zu den Möglichkeiten, die sie auf dem Arbeitsmarkt vorfinden, sondern auch zu den Verpflichtungen, die der schulische Erfolg mit sich bringt.

Longor und Elim: Erfolgreicher Schulverlauf und die Kontinuität von Verpflichtungen und Handlungsstrategien

Elims Mutter, Longor, in deren Nachbarschaft ich während meiner Feldforschungsaufenthalte von 1989-1994 wohnte und die zu einer meiner wichtigsten Gesprächspartnerinnen wurde, bat mich im August 1991 für ihren Sohn Elim die Schulgebühren für die Oberschule zu bezahlen. Eine Reihe von Entwicklungen hatte dazu geführt, dass Longor auf der Suche nach einer Sponsorin für Elim auf mich zukam. Etwa ein halbes Jahr, bevor sie mich ansprach, hatte NORAD, der Hauptgeber für Entwicklungsprojekte im Turkanadistrikt und Sponsor vieler Turkanakinder, aufgrund von diplomatischen Verwicklungen Kenia verlassen. Zudem war die Situation in Nomadengebiet angespannt. In meinen Tagebuchnotizen finde ich folgenden Eintrag:

„Mary (eine Freundin von Longor, die gut Englisch spricht und mir bei meinen Feldforschungsaufenthalten assistierte) erzählte mir heute, das Longor früher die Schulgebühren für ihren Sohn durch den Verkauf eines ihrer Tiere in den Nomadengebieten aufgebracht hat. Ein Kamel oder ein Rind wurde verkauft und davon wurden Elims Schulgebühren bezahlt. Heute – so Mary – ist dies wegen der Dürre im Nomadengebiet nicht möglich.“ (Tagebuchnotiz, 5.8.1991)

Longor arbeitete zu diesem Zeitpunkt für die Frauenkooperative in Nawoitorong. Sie war eine der Frauen, die noch enge Beziehungen zur mobilen Viehwirtschaft und in die Nomadengebiete pflegte und Vieh besaß, was sich rein äußerlich in ihrer Kleidung zeigte: Longor trug Halsketten und ein Tuch und nicht wie viele andere Frauen der Gruppe Röcke oder Kleider. Meine Motivation ihr zu helfen entsprang nicht nur unserer engen Beziehung, sondern auch meiner Vorstellung, („traditionelle“) Frauen wie Longor bräuchten besondere Unterstützung, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken. Später realisierte ich, dass andere Frauen in der Nachbarschaft dies ganz anders sahen und sich fragten, warum die weiße Frau eine reiche Familie unterstützte. In der damaligen Vorstellung der Turkana ist Viehbesitz mit Wohlstand verknüpft und das städtische Leben (ohne Viehbesitz) mit Armut.

Auch nachdem Elim die Oberschule abgeschlossen hatte, blieben wir weiter in Kontakt. Er zog nach Nairobi, wo er ein College besuchte und zum Buchhalter ausgebildet wurde. Ich zahlte weiter für seine Ausbildung und besuchte ihn regelmäßig. Ende der 1990er Jahre brach mein Kontakt mit Elim ab. Ich erfuhr später, dass er zunächst nach dem Abschluss des Colleges für eine NGO in Lokichoggio gearbeitet hatte. Hier befand sich das Zentrum der humanitären Hilfe für den sich im Bürgerkrieg befindenden südlichen Teil des Sudans. Viele junge Turkana mit abgeschlossener Schul- oder Hochschulausbildung fanden dort seit Mitte der 1990er Jahre Arbeit. Weitere Arbeitsmöglichkeiten gab es im Flüchtlingslager in Kakuma, das 1994 für aus dem südlichen Sudan geflohene Menschen errichtet wurde und sich inzwischen zu einer „Stadt“ innerhalb des Turkanagebietes entwickelt hatte[8]. Elim heiratete, bekam fünf Kinder und baute für sich und seine Frau ein Haus in einem städtischen Viertel von Lodwar. Elim war zudem für Longor verantwortlich, die zunehmend von seiner Unterstützung abhängig geworden war. 1994 hatte die Familie einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Elims einzige Schwester Dorcas war gestorben. Dorcas hatte nicht die Schule besucht, sondern wurde von Longor für ein Leben im Nomadengebiet ausgebildet. Obwohl sich Elims Frau Josephine und Longor nicht gut verstanden, baute Elim für seine Mutter ein kleines Haus auf seinem Grundstück, wo sie bis heute lebt.

Nach dem Abschluss des Friedensabkommens zwischen der sudanesischen Regierung und der Sudan Peopleʼs Liberation Movement (SPLM) 2005 zogen sich die internationalen Organisationen aus Lokichoggio zurück und Elim, wie viele andere junge Turkana, verlor seine Arbeit. Anders als viele seine*r Kolleg*innen fand er jedoch im Anschluss eine Stelle und zog nach Mombasa, wo er für das Internationale Rote Kreuz arbeitete. Für viele Jahre pendelte Elim nun zwischen Mombasa und Lodwar. Für ihn war das ein schwieriger Spagat, da er nicht nur für seine Familie in Lodwar sorgen musste, sondern auch für den Viehbesitz der Familie im Nomadengebiet und die damit einhergehenden vielfältigen Verpflichtungen zuständig war. Bei unserem ersten Wiedersehen in Nairobi 2011 erzählte mir Elim von seinem Wunsch in Lodwar eine Arbeit bei der Lokalregierung oder in der aufstrebenden Ölindustrie zu finden. Um dies zu erreichen, nahm er an einem Fernstudium teil, um einen Bachelorabschluss zu erhalten, der inzwischen Voraussetzung für berufliche Karrieren geworden war, die bisher jungen Turkana mit einem Sekundarschulabschluss oder einer Ausbildung am College offen gestanden hatten. Elim und ich trafen uns nun wieder regelmäßig, meist in Nairobi. Ich besuchte Longor in Lodwar und lernte Josephine und seine Söhne kennen. Schließlich besuchte Elim mich in Berlin, während er in Portsmouth „Petrol and Gas Engineering“ für einen Masterabschluss studierte. Elim war von Tullow Oil, ein Unternehmen, welches die Rechte zur Förderung von Öl im Turkana County erhalten hatten, für ein Stipendium ausgewählt worden. Stipendien für Turkana mit der Möglichkeit der anschließenden Einstellung waren Teil eines Abkommens, dass die county-Regierung nach der Dezentralisierung[9] mit Tullow Oil und der Regierung in Nairobi ausgehandelt hatte. Aber zu dieser Einstellung kam es für Elim nicht. Zum einen zog sich Tullow Oil aus der Ölförderung im Turkana County aufgrund des sinkenden Ölpreises und der angespannten Sicherheitslage zunächst zurück; zum anderen bekam Elim, kurz bevor er sein Masterstudium in England abschloss, ein Angebot der lokalen Regierung in Lodwar, so dass er nun nach seiner Rückkehr aus England eine Arbeit fand.

Elims Bildungsverlauf kann als Erfolgsgeschichte gelesen werden, da seine Schulbildung ihm zu Arbeitsstellen in NGOs innerhalb und außerhalb des county, zu einem Studium im Ausland und schließlich zu einer Position in der lokalen Verwaltung verhalf. Diese Erfolgsgeschichte beruht nicht nur auf der finanziellen Unterstützung durch Stipendien und Sponsoren, Elims Anstrengung und den Möglichkeiten, die sich ihm Ende der 1990er Jahre und nach der Dezentralisierung boten, sondern auch auf den Verbindungen der Familie zum Nomadengebiet und ihrem Viehbesitz. Anders als im Fall anderer Kinder, deren Schulverläufe ich beobachtete, waren Elim und seine Familie nicht vollständig von städtischem Einkommen, Sponsor*innen oder Stipendien abhängig, sondern konnten in einer Notlage Vieh verkaufen und den Erlös zum Bezahlen von Schulgebühren einsetzen.

Die Arbeit in Lodwar ermöglicht Elim nun regelmäßig in das Nomadengebiet zu fahren, um nach den Tieren zu schauen und seine sozialen Beziehungen zu pflegen. 2016 heirateten Josephine und Elim. Turkanahochzeiten sind teuer und können nur mit der Hilfe anderer bezahlt werden. Ich schrieb in mein Tagebuch:

„Elim und Josephine haben erst vor einem Jahr traditionell geheiratet. Sie mussten das tun, weil Elims Cousins vorher nicht heiraten können. Elim musste für die Verköstigung während der Hochzeit aufkommen und einige Tiere für die Familie besorgen, aber der Brautpreis wurde von seinen Onkeln gezahlt. Der Brautpreis bestand aus 30 Kamelen und etwa 150 Ziegen. Jetzt hat die Familie nur noch wenige Tiere.“ (Tagebuchnotiz, 26.11.2017).

2019 heiratete Elim gegen den Widerstand von Josephine eine zweite Frau, die inzwischen ein Kind von ihm bekommen hat. Mit dem Bezahlen des Brautpreises für Josephine und der Heirat einer zweiten im Nomadengebiet lebenden Frau versucht Elim, die sozialen Beziehungen im Nomadengebiet und das Leben als Viehhalter auch an die nächste Generation weiterzugeben.

Elims Beziehungen zum Nomadengebiet sind trotz (oder wegen) seines Erfolgs im städtischen Leben enger geworden. Bei meinem letzten Besuchen hielt Elim sich häufig im Nomadengebiet auf und kam nur kurz nach Lodwar, um mich zu treffen. Der Spagat zwischen beiden Standorten und Lebensweisen ist schwierig und verlangt Elim einiges ab. Hier zeigen sich die ersten Risse in der Erfolgsschichte. Besonders problematisch sind für Elim die Schulverläufe seiner Söhne. Die Kosten für Schulbildung sind im Vergleich zu seiner Schulzeit exorbitant gestiegen. Die Qualität der staatlichen freien Grundschulbildung ist gering. Die Kinder lernen in überfüllten Klassen. Lehrer*innen sind oft schlecht ausgebildet und glänzen zum Teil durch Abwesenheit. Kinder auf staatlichen Schulen haben im zentralen Abschlussexamen Kenya Certificate Of Primary Education (KCPE) nur geringe Chancen, gute Ergebnisse zu erzielen. Elims Kinder gehen bzw. gingen auf die private Blooms Academy – nach dem Ranking des kenianischen Bildungsministeriums eine der besten Grundschulen im Turkana County. Nach der Grundschule besuch(t)en Elims ältere Kinder staatliche Sekundarschulen im county. Elim muss neben den Schulgebühren auch für zusätzliche Kosten wie Bücher, Schuluniformen und Verpflegung im Internat etc. aufkommen. Darüber hinaus ist er für andere Kinder aus der Verwandtschaft und ihre Schulbildung zuständig und muss auch in finanziellen Notlagen einspringen und z.B. seinen Beitrag bei der Zahlung eines Brautpreises leisten. In seiner Familie gilt Elim nun als ein „big man“, der viele Verpflichtungen hat.

Die Probleme, die Elim mit den Schulverläufen seiner Söhne hat, beschränken sich jedoch nicht auf den finanziellen Aspekt, sondern spiegeln die strukturelle Krise der Schulbildung wider. Das kenianische Schulsystem ist sehr kompetitiv und verlangt Kindern und Eltern einiges ab. Elim ist nicht zufrieden mit den Leistungen seiner Söhne. Während es zu seiner Schulzeit ausreichte in einer der wenigen Sekundarschulen im county einen Sekundarschulabschluss zu machen, um berufliche Erfolgsaussichten zu haben, müssen die Schüler*innen heute mit sehr guten Leistungen abschließen, um nach der Sekundarschule Fächer wie Medizin oder Ingenieurswissenschaften, die mit einer guten beruflichen Perspektive verbunden werden, studieren zu können oder überhaupt an einer Universität angenommen zu werden. Elims ältester Sohn Philipp hat dies nicht geschafft. Die Erwartungen an seinen weiteren Bildungsweg sind hoch. Philipp spricht kaum Turkana und verfügt nicht über die Kompetenzen und die Bereitschaft, seinem Vater bei seinen Aufgaben in der mobilen Viehwirtschaft zu helfen. Wie viele junge Menschen befindet Philipp sich in einer Situation des Wartens (waithood). Waithood bezeichnet eine Situation, in der junge Menschen es nicht schaffen, erwachsen zu werden. Waithood resultiert nicht aus der Unfähigkeit der jungen Menschen, sondern hat strukturelle Ursachen (Honwana 2014: 29). Hierbei spielt die formale Bildung eine zweischneidige Rolle. Auf der einen Seite kann Schulbildung eine Zukunft ermöglichen, auf der anderen Seite werden andere Wege, erwachsen zu werden (z.B. innerhalb der mobilen Viehwirtschaft oder durch Tätigkeiten im informellen Sektor) nicht in Betracht gezogen. Schulabgänger*innen erwarten Angestelltenjobs[10], die begrenzt sind und nur einer kleinen Gruppe erfolgreicher und gut vernetzter Hochschulabsolventen*innen zugänglich sind. Schulbildung ist der Grund für das Gefühl festzustecken, aber sie hilft jungen Menschen (und ihren Eltern) auch, sich eine Zukunft überhaupt vorzustellen zu können (Dungey & Ansell 2020: 616).

Elims eigener Erfolg basiert zum einen auf der Verwurzelung seiner Familie in der mobilen Viehwirtschaft zum anderen auf günstigen Bedingungen, die ihm Zugang zu Arbeit und höheren Bildungsabschlüssen ermöglichten. Elims Geschichte (und die seiner Söhne) zeigt jedoch auch, dass es immer schwieriger geworden ist, Schulbildung in beruflichen Erfolg zu transformieren. Die Bildungsexpansion führt zu immer höheren Anforderungen. Ein Oberschulabschluss, ein Diplom oder sogar ein Bachelorabschluss reichen heute nicht mehr aus, um einen sicheren Arbeitsplatz zu erhalten. Catie Coe (2020) argumentiert, dass im Zusammenhang mit der Bildungsexpansion und der neoliberalen Politik des Staates der Zugang zu Bildung immer mehr zu einer Art Glücksspiel wird. Sie betont, dass die privaten Bildungsmärkte die Träume junger Menschen von stabilen Arbeitsplätzen verzaubern: „Mit Bildungszauber meine ich die Art und Weise, wie die Schulbildung zum Vehikel für Zukunftsphantasien wird.“ (ebd.: 601; Übers US) Den Zauber von Schulbildung und wie sehr Schulbildung die Aspirationen von vielen Menschen prägen zeigt Rebeccas und Vickys Geschichte.

Rebecca und Vicky: Aspirationen, Enttäuschungen und der Glaube an die Zukunft

Wie Longor war Rebecca Mitglied der Frauenkooperative in Nawoitorong und lebte in meiner Nachbarschaft. Anders als Longor arbeitete Rebecca jedoch als Köchin für die Kooperative bis sie 2021 in den Ruhestand ging. Rebecca ist die dritte Frau von Ekidor, einem einflussreichen Pastoralisten, der zeitweise für die Lokalregierung in Lodwar arbeitete. Bis heute leben Rebecca und Ekidors erste Frau in Nawoitorong, während die zweite Frau im Nomadengebiet lebt. Schon als junge Frau, in der Zeit als wir uns kennenlernten, kam Rebecca die Aufgabe zu, den Stadthaushalt der Familie zu führen. Dies beinhaltete auch Schulkinder zu beherbergen und für anfallende Kosten aufzukommen. Rebecca hat fünf (lebende) Kinder, die zwischen 1980 und 1999 geboren wurden (ihre ersten beiden Kinder starben kurz nach der Geburt). Alle Kinder haben die Oberschule abgeschlossen. Zwei Söhne haben einen Bachelorabschluss und Vicky, ihre einzige Tochter, ein Diplom in Business Management. Tagebuchnotizen und Interviews, die ich mit Rebecca geführt habe, verweisen darauf, dass Rebecca schon als junge Frau in den 1990er Jahren große Erwartungen mit dem Schulbesuch ihrer Kinder verknüpfte. Obwohl Rebecca wie Longor in einer Familie lebte, in der Viehbesitz eine große Rolle spielt, symbolisierte Schulbildung für sie zudem die als positiv konnotierten Veränderungen, die das sesshafte moderne Leben in der Stadt mit sich bringen. In einem Interview, das ich 2021 mit Vicky, Rebeccas Tochter, führte, bestätigt sie den Einsatz ihrer Mutter und deren Glauben an die mit der Schulbildung verknüpfte Zukunft ihrer Kinder, räumt allerdings ein, dass dies nicht von Anfang an der Fall war:

„Ich habe den Kindergarten der Heilsarmee besucht. Es ist ein kirchlicher Kindergarten und wir gingen nur zum Essen dorthin. Wir haben uns nicht auf Bildung konzentriert, denn wenn es in der Schule kein Essen gab, gingen wir nicht zur Schule... Danach ging ich in eine Grundschule und zwar in die erste Klasse der Napu Primary School. Es war gar nicht so schwer, denn das Einzige, was wir mitnehmen mussten, waren ein Buch und ein Stift. Auch in der Grundschule war die Motivation das Essen. Wenn wir in der Schule nichts zu essen bekamen, gingen wir nicht in die Schule… Aber wir danken Gott, denn wir haben all das durchgemacht und sind schließlich daran gewachsen und wussten, dass dies der beste Ort für uns ist. Der beste Ort, um sich in der Zukunft besser zu stellen, ist sich auf das Lernen zu konzentrieren.“ (Interview mit Vicky, 19.9.2021)

In Vickys Erzählung steht der Glauben an westliche Schulbildung am Ende eines Prozesses, in der Schulbildung immer wichtiger für sie und ihre Familie wurde. Trotzdem finde ich in meinen Tagebuchnotizen und den Interviews, die ich mit ihrer Mutter zu Beginn der 1990er Jahre führte, bevor Vicky zur Schule ging, bereits die Verknüpfung von Schulbildung mit Aspirationen für die Zukunft. Möglicherweise haben sich Rebeccas Aussagen zu diesem Zeitpunkt eher auf den im Umfeld der Kooperative populären Entwicklungsdiskurs bezogen und weniger auf ihre persönlichen Vorstellungen. Eine andere Lesart ist (dies deckt sich mit Beobachtungen und Interviews, die ich mit anderen Frauen geführt hatte), dass auch für Rebecca Schulbildung zu Beginn nicht die einzige Möglichkeit darstellte, für ihre Kinder eine Zukunft zu sichern. In vielen Familien blieben nur einzelne erfolgreiche Kinder (wie z.B. Elim) in der Schule, während sich andere Kinder nach einigen Jahren des Schulbesuchs im Nomadengebiet oder in der Stadt eine andere Zukunft aufbauten. In den Interviews, die ich mit Vicky und Rebecca von 2019-2022 führte, wird jedoch deutlich, dass westliche Schulbildung für sie alternativlos geworden ist. Im Mittelpunkt der Interviews stehen die Entbehrungen, die Rebecca auf sich genommen hat, um ihren Kindern eine westliche Schulbildung zukommen zu lassen und die daraus resultierenden Verpflichtungen für Vicky und ihre Geschwister. Auf meine Frage, wie sie es geschafft hat, trotz ihres geringen Einkommens allen Kinder eine Schul- bzw. Hochschulbildung zu ermöglichen, antwortet Rebecca:

„Ja, es war wenig Geld, aber ich habe den Kindern beigestanden und jedes Mal, wenn Geld für die Schule gebraucht wurde, habe ich geholfen, weil ich einer Spargruppe beigetreten bin, in der wir einer Person Geld gegeben haben und das nächste Mal einer anderen und so und manchmal habe ich mir Geld von der Gruppe geliehen, um den Schulbedarf der Kinder zu decken. Außerdem habe ich mich von Dingen ferngehalten, die mich beeinträchtigen, wie z.B. dem Konsum von Alkohol. Ich beschloss, mich auf die Ausbildung der Kinder zu konzentrieren, und so schaffte ich es. Wie du an meinem Haus sehen kannst, wohnte ich schon damals in diesem alten Haus und auch dieses neue Gebäude, das Du hier siehst, wurde nicht von mir gebaut, sondern von meinem Sohn Bobby, als er noch gearbeitet hat.“ (Interview mit Rebecca, 12.8.2019).

Auch Vicky stellt den Verdienst ihrer Mutter bei ihren schulischen Erfolgen heraus. Vicky hat wie ihre Geschwister staatliche Schulen in der Nachbarschaft von Nawoitorong besucht und dort erfolgreich abgeschlossen. Nach der Schule hat sie ein College in Nairobi besucht und mit einem Diplom in Business Management abgeschlossen. Bei unserem ersten Wiedersehen 2019 arbeitete Vicky gerade in Kakuma für das World Food Programm (WFP), allerdings auf Honorarbasis mit Kurzzeitverträgen. Als ich Vicky 2021 wiedertraf hatte sie inzwischen geheiratet und ein Kind bekommen. Zudem befand sie sich beruflich in einer Sackgasse. Ohne einen Bachelorabschluss sieht sie keine Möglichkeit, sich im NGO Sektor zu etablieren und mit einer festen Stelle ihre Familie zu unterstützen. Bei meinem letzten Besuch im September 2022 hatte Vicky gerade ein Studium begonnen und versuchte dies mit Kurzeitaufträgen für NGOs zu finanzieren.

Vickys Ziel ist es, etwas an ihre Mutter zurückzugeben und für sie zu sorgen. Schon in der Vergangenheit hatte sie, wenn möglich, Aufgaben in der Familie übernommen. Bei einem meiner Besuche brachte sie ihrer Mutter mehrere Säcke Mais und andere Lebensmittel, die sie von ihrem Einkommen bezahlt hatte. Zudem fühlt sich Vicky für die Ausbildung ihrer beiden jüngeren Brüder verantwortlich.

„Und als ich meinen Job (beim WFP, US) bekam, beschloss ich, nichts anderes zu tun, als meine jüngeren Brüder zu unterstützen. Ich hatte einen Bruder, der an der Universität war, und ich sagte meiner Mutter, sie solle aufhören... wenn sie für irgendetwas bezahlen soll, werde ich mich darum kümmern, und das habe ich getan. Eineinhalb Jahre lang, bis mein Bruder seinen Abschluss gemacht hatte. Ich war so froh darüber, weil ich meine Mutter von diesem Stress befreit hatte, …Ich habe für die Unterkunft meines Bruders bezahlt, für den Transport all diese Dinge, bis er fertig war. Er hat seinen Abschluss gemacht und ich danke Gott, dass er einen Job gefunden hat. Mein Problem ist jetzt, dass mein Vertrag ausgelaufen ist, und bis jetzt habe ich noch keinen neuen Job bekommen. Das große Problem, das ich jetzt habe, ist, dass ich Geld brauche, um mich weiterzubilden, zumindest um meinen Bachelor-Abschluss zu machen. Und wenn Gott für mich da ist, wenn ich einen Job bekommen kann, werde ich sehr dankbar sein. Ich danke Gott für die Tatsache, dass ich es geschafft habe... wenn ich in meinem Leben weiterkomme, werde ich sicherstellen, dass ich meine Mutter an die Spitze stelle, denn sie hat wirklich für uns gelitten. Sie hat wirklich, wirklich für uns gelitten“. (Interview mit Vicky, 19.9.2021).

Vicky ist hin und hergerissen zwischen ihrem Bedürfnis etwas zurückzugeben und der Notwenigkeit, sich weiterzubilden, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Ihre instabile berufliche Situation ist typisch für junge Turkana und betrifft auch ihre Brüder. Von Zeit zu Zeit hat einer von ihnen Arbeit, andere versuchen ihre Chancen durch ein weiteres Studium, ein Praktikum oder eine Ausbildung zu verbessern. Gleichzeitig haben Vicky und ihre Brüder inzwischen Familien gegründet und müssen Schulgebühren für die eigenen Kinder aufbringen, die aufgrund des Bildungsanspruchs ihrer Eltern Privatschulen besuchen.

Da die Familie einen großen Teil ihres Viehes verloren hat, kann das städtische Leben nicht von den Erlösen aus der Viehwirtschaft subventioniert werden. Viele Verwandte aus dem Nomadengebiet haben inzwischen ihre Kinder in die Stadt geschickt, um dort versorgt zu werden und zur Schule zu gehen. Für Rebecca beutete dies, dass der Kampf um die Ausbildung der Kinder nicht zu Ende ist. Auf meine Frage, wie sie sich die Zukunft vorstellt, antwortet sie:

„Ich suche noch nach einer gewissen finanziellen Stabilität. Ich werde etwas aufbauen, was mir gehört, denn meine Kinder haben mir nichts für die Anstrengung, die ich auf sie verwandt habe, um zur Schule zu gehen, zurückgegeben. Einige wie Vicky und Ewoton haben keine Arbeit. Und es sind die beiden, die arbeiten, zu denen wir alle aufschauen, um finanzielle Hilfe zu bekommen, … Ich möchte etwas finden, was ich tun kann. Ich kümmere mich auch noch um einige andere Leute hier, wie du sehen kannst, und ich kann mich nicht ausruhen, ich strenge mich immer noch an, solange Gott mir noch Leben gibt.“ (Interview mit Rebecca, 12.8.2019)

Trotz dieser ernüchternden Bilanz präsentieren Vicky und Rebecca die Geschichte ihrer Familie in Bezug auf Schulbildung als eine Erfolgsgeschichte. Die Tatsache, dass alle Kinder die Schule abgeschlossen haben und keiner vorzeitig abgebrochen hat, wird in den Interviews herausgestellt. Obwohl Rebecca auf der Suche nach Kapital ist, um ein kleines Geschäft aufzubauen, mit dem sie sich im Alter versorgen kann, stellt sie die hohen Investitionskosten in die Schulbildung ihrer Kinder nicht in Frage.

Schulbildung ihrer Kinder beinhaltet für Rebecca eine Möglichkeit, sich eine eigene Zukunft zu ersehnen. Der Glaube an westliche Bildung spiegelt ihre Fähigkeit wider, nach etwas zu streben. Dabei handelt es sich weniger um ein konkretes Ziel oder eine konkrete Erwartung, sondern um eine Aspiration im Sinne Appadurais (2013). Rebecca hat ihre Kinder in die Schule geschickt, weil sie glaubt, dass Bildung ihnen eine Zukunft bringen wird. Sie hält an diesem Glauben fest, auch wenn die damit verbundenen Erwartungen nicht im vollen Umfang eingetreten sind und viele es trotz Schulbildung nicht geschafft haben, sich eine Zukunft aufzubauen. Im Fall von Rebecca erscheint es, dass Schulbildung mehr ist als ein Mittel, um in der Zukunft erfolgreich zu sein. Das Streben nach Bildung ist für sie wichtiger als die damit verbundenen konkreten Erwartungen und Ziele (Dungey & Ansell 2020: 616; Maurus 2016: 16). Vicky beschreibt die Motivation ihrer Mutter wie folgt:

„Alle meine Cousins und Cousinen kamen zu uns nach Hause und meine Mutter sorgte für das Schulgeld, manchmal sogar für Stifte und Bücher. All diese Dinge. Weil meine Mutter die Schule so sehr liebt. Ja, sie sagt, das ist der einzige Ort, an dem wir aus dieser Armut herauskommen können. Der einzige Ort, an dem ich mich ausruhen und alles haben kann, was ich will. Sie sagt, wenn sie zur Schule gegangen wäre, wäre sie jemand Besseres geworden und ihre Kinder hätten auf bessere Schulen gehen können, auf gute Schulen. Sie hätte ein gutes Leben führen können, aber immerhin hat sie ihr Bestes gegeben. Sie hat uns zusammengetrommelt. Sie hat uns alle unterstützt. Wir sind alle zur Schule gegangen. Wir haben alle unsere weiterführenden Schulen abgeschlossen. Ja, wir haben nicht einmal abgebrochen. Ich danke Gott, dass wir sie am Ende des Tages nicht enttäuscht haben. Ja, das liegt an den aufmunternden Worten, die sie uns immer wieder gesagt hat.“ (Interview mit Vicky, 19.9.2021)

In Vickys Würdigung ihrer Mutter zeigt sich, dass die Fähigkeit zur Aspiration für Rebecca auch eine Möglichkeit darstellt, Anerkennung und Respekt zu erlangen. Der erfolgreiche Schul- bzw. Hochschulabschluss der Kinder bietet die Möglichkeit der gesellschaftlichen Anerkennung (Appadurai 2013: 289). In diesem Sinne können Schulen Orte sein, an denen man der Armut entkommen kann.

Im Narrativ von Rebecca und Vicky sowie Rebeccas Aspiration durch Schulbildung, der Armut zu entkommen, werden die Unterschiede innerhalb der Turkanabevölkerung und das Klassifizierungssystem der Turkana unsichtbar. Im Entwicklungsdiskurs sind Menschen wie Rebecca und Longor Teil der armen Bevölkerung, der sich entwickeln muss um der Armut zu entkommen. Im Klassifizierungssystem der Turkana gehören sie jedoch zu den besser gestellten Familien. Ihr Handeln ist eingebettet in eine Familie, die über Viehbesitz und ein komplexes Netzwerk von sozialen Beziehungen verfügt. Diese „feinen Unterschiede“ zeigen sich nicht unbedingt in Unterschieden im Konsum oder spezifischen Besitzgütern, sondern spiegeln sich im Vermögen der Familien in Form von Viehbesitz und in ihren sozialen Beziehungen wider. Letztere wurden z.B. bei der Registrierung von städtischem Land, die nach der Dezentralisierung verstärkt einsetzte, wirksam. Rebeccas und Longors Familien haben nicht nur bessere Möglichkeiten von Kommerzialisierung und Privatisierung zu profitieren (oder ihnen zumindest nicht zum Opfer zu fallen), sondern sind auch in Bezug auf Schulbildung besser aufgestellt als z.B. Awoi und Ingolan, die nach dem Klassifikationssystem der Turkana zu den maskini[11] gezählt werden.

Awoi und Ingolan: „Wenn ich zur Schule gegangen wäre, würde unser Haus leuchten“

Während in Nawoitorong Anfang der 1990er Jahre viele Kinder zur Schule gingen und Schulbildung eine gewisse Bedeutung im Leben einiger meiner Gesprächspartnerinnen hatte, war das für andere Frauen und ihre Kinder nicht der Fall. In Napetet, einem Viertel, das nahe am Stadtzentrum Lodwars liegt und in dem sich dicht gedrängt ein Manyatta an ein anderes reiht, lernte ich 1991 Awoi und Asuchon, zwei Freundinnen und Nachbarinnen, kennen. Ihre Kinder waren entweder noch zu klein, um zur Schule zu gehen, oder lebten wie im Fall von Ingolan, der ältesten Tochter von Awoi, nicht in Lodwar sondern bei Verwandten im Nomadengebiet. Awoi und Asuchon waren bei unserem ersten Zusammentreffen 1991 noch nicht lange in Lodwar, sondern waren als verarmte Viehhalter*innen während der Dürre Mitte der 1980er Jahre in die Stadt gekommen. Beide erzählten mir zunächst, dass sie vom Kleinhandel lebten, später bemerkte ich, dass sie ihren Lebensunterhalt mit Bierbrauen und Alkohol brennen bestritten. Darüber hinaus griffen sie je nach vorhandenen Möglichkeiten auf Nahrungsmittelhilfe und andere Hilfsleistungen zurück. Für beide war Lodwar eine Übergangsstation, in der sie sich nur vorübergehend aufhielten, um auf der Suche nach neuen Möglichkeiten weiterzuziehen. Als Menschen, die über einen längeren Zeitraum in einer prekären Situation lebten und ihre Lebensgrundlage in den Nomadengebieten gefährdet sahen, gehörten sie zu den maskini. Die Hoffnungen von Awoi und Asuchon richteten sich auf eine Zukunft im Nomadengebiet, die sie durch soziale Beziehungen in das Nomadengebiet aufrechterhielten. Ein wichtiger Teil dieser Strategie bestand für Awoi darin, ihre Tochter im Nomadengebiet groß zu ziehen, um damit die eigene Rückkehr zu ermöglichen (Schultz 1997; 2000). In Awois Aspirationen spielte zu diesem Zeitpunkt der Schulbesuch ihrer Kinder keine Rolle. Im Gegenteil: Schulbesuch galt im Kontext einer ersehnten Rückkehr in das Nomadengebiet als kontraproduktiv, da die Kinder in der Schule nicht auf das Leben als mobile Viehhalter*innen vorbereitet werden. Zudem ist die Erzielung eines Brautpreises bei der Heirat einer Tochter eine Möglichkeit, die dezimierten Herden aufzustocken und doch wieder als Viehhalterin leben zu können.

Awois Plan ist nicht aufgegangen. Ihr Vater und ihr Onkel, die im Nomadengebiet verblieben waren, haben inzwischen fast alle Tiere verloren. Die Familie besitzt inzwischen nur noch einige Ziegen. Ingolan, die Tochter, hat das Nomadengebiet während der großen Dürre 2000 verlassen und ist mit ihrem damaligen Mann, einem verarmten Turkana, der den Brautpreis für sie nicht bezahlen konnte, und einem Kind nach Lodwar gekommen.[12] Ingolan stellt dies als einen positiven turning point in ihrem Leben dar.

„Im Nomadengebiet gibt es kein Essen. Manchmal wenn sie eine Ziege geschlachtet haben, haben wir etwas zu essen gehabt. Manchmal haben sie eine Ziege verkauft und mit dem Geld Essen gekauft. Aber sonst gab es nichts. Wir haben wilde Früchte gegessen. Hier in der Stadt haben wir zu essen.“ (Interview mit Ingolan, 2.12.2017)

Ingolans Erinnerung, in der sie das Leben im Nomadengebiet mit Mühsal und Verzicht verbindet, widerspricht der Art und Weise wie ihre Mutter Awoi und andere Frauen, die Mitte der 1980er Jahre nach Lodwar gekommen waren, sich an das Leben im Nomadengebiet erinnerten, als ich sie Anfang der 1990er Jahre kennenlernte.

„Als ich in die Stadt kam, habe ich alles was ich im Nomadengebiet gemacht habe zurückgelassen. Das Wasser-Holen für die Tiere, das Feuerholz-Suchen, das Springen (die Turkana springen beim Tanzen)… Alles was ich im Nomadengebiet getan habe, habe ich nie wieder gemacht… Das beste Leben ist im Nomadengebiet. Das Leben hier (in Lodwar) ist nicht gut. Du kannst von jemandem erstochen werden ohne jeden Grund. Die Menschen beleidigen sich und streiten.“ (Interview mit Awoi, 11.2.1992)

In vielen Interviews wurde das Leben im Nomadengebiet als das gute, erhaltens- und erstrebenswerte Leben beschrieben, während der Aufenthalt in der Stadt mit Entbehrungen, Armut und Gewalt umrissen wurde. Ingolan dagegen hofft auf ein gutes Leben in der Stadt. Ihre Erwartungen basieren auf dem Schulerfolg ihrer Kinder:

„Ich möchte, dass sie ein gutes Leben haben. Wenn sie die Schule beendet haben, dass sie einen Job bekommen, dass sie jede Ausbildung machen können und selbst entscheiden, ob sie Arzt oder Lehrer werden wollen oder eines Tages in einem Büro arbeiten wollen. Es gibt eine Menge Jobs.“ (Interview mit Ingolan, 21.9.2021)

Ingolan investiert in die Ausbildung ihrer Kinder. Sie bezahlt Fahrgeld, Bücher und Stifte für ihre inzwischen fünf schulpflichtigen Kinder. Das Geld dazu verdient sie mit der Produktion und dem Verkauf von Schnaps und Bier. Die Aufgabe ihres Mannes ist es, Stipendien von der Lokalregierung für die Schulgebühren zu akquirieren, besonders die Gebühren für die Sekundarschulen übersteigen Ingolans finanzielle Möglichkeiten.

Obwohl Ingolan die Chancen, die sich ihren Kindern durch Schulbildung auftun, beschwört, räumt sie wenig später ein, dass die Leistungen ihrer zwei älteren Kinder momentan wenig erfolgsversprechend sind.

„Sie gehen zur Schule, aber sie verstehen nicht viel von der Materie, so dass sie nicht so gut abschneiden. Als mein Sohn Ekai in die Sekundarschule kam, hatte er die Prüfungen irgendwie bestanden, aber als er in die zweite Klasse kam, wurden die Noten schlechter. Das ist auch bei seinem jüngeren Bruder der Fall… Wenn die Kinder zu Hause sind hier in Napetet, lungern sie nur herum und lernen nichts. Wenn du mit schlechten Menschen abhängst, wirst du auch zu einem schlechten Menschen. Und wenn du mit guten Menschen zusammen bist, wirst du auch zu einem guten Menschen. Also treiben wir sie einfach an, treiben sie voran.“ (Interview mit Ingolan, 21.9.2021)

Ingolans Erzählung verweist auf die Unsicherheiten und Risiken, die die Investition in Schulbildung mit sich bringen. Ihre Kinder sind in Internatsschulen und kommen in den Ferien nach Hause. Ingolan lebt in Napetet, einem Viertel, dass von Armut, Gewalt und Alkoholmissbrauch geprägt ist. Viele Kinder wachsen in beengten Unterkünften ohne Strom und Sanitäranlagen auf. In diesem Kontext ist es schwierig, Kinder für die Schule zu motivieren und sie davon abzuhalten, „herumzulungern“. Dies stellte für Ingolan besonders während der COVID-19-Pandemie vor große Herausforderungen (Schultz 2022). Die Schulen blieben neun Monate lang geschlossen und die Kinder „trieben sich in der Nachbarschaft herum“. Während Ingolan dem Umgang ihrer Söhne die Verantwortung für deren Scheitern zuschiebt, stecken dahinter strukturelle Ursachen, die ich bereits am Beispiel von Elims Sohn Philipp beschrieben habe. Im Alter von Ingolans älteren Söhnen sind die Optionen bereits begrenzt und die Jugendlichen spüren, dass weitere Anstrengungen keinen Ertrag bringen.

Die Hoffnung Ingolans, dass ihre Kinder erfolgreich die Schule beenden und später als Ärzt*innen oder Lehrer*innen ein gutes Leben haben werden, erscheint in diesem Kontext noch unrealistischer als zur Zeit meiner ersten Feldforschung die Erwartung vieler Frauen war, „eines Tages in das Nomadengebiet zurückzukehren“. Die immer wieder und wieder mantraartig geäußerten Erwartungen, die mit westlicher Schulbildung verknüpft werden, basieren nicht auf Erfahrungen und realistischen Perspektiven. Schulbildung ist auch in Ingolans Kontext Teil der kollektiven (und ihrer persönlichen) Aspiration geworden. Es zeigt sich jedoch, dass die Fähigkeit zur Aspiration nicht gleich verteilt ist. Je besser gestellt jemand ist, umso leichter fällt es, das Verhältnis von Mitteln und Zielen realistisch einzuschätzen, da diese Einschätzung auf Erfahrung beruht. (Appadurai 2013: 188). In Interviews, die ich mit Sekundarschüler*innen 2021 durchgeführt habe, wurden Ziele wie, Arzt werden und mit der Schulbildung der Armut zu entkommen, besonders häufig von Kindern aus schlechten Schulen mit geringen Erfolgsaussichten genannt. Dagegen schätzten Schüler*innen mit potenziell besseren Möglichkeiten ihre Chancen sehr viel realistischer ein und beriefen sich dabei z.B. auf Zulassungskriterien von Hochschulen oder die Kosten einer Ausbildung.

Problematisch sind mit der Schulbildung verknüpfte Erwartungen nicht nur im Hinblick auf die damit verbundenen Handlungen und Investitionen, die keinen Ertrag bringen, Armut perpetuieren oder sogar eine Armutsfalle bedeuten können, wenn sich Familien wegen der Bezahlung von Schulgebühren verschulden, sondern auch weil sie mit einer Entwertung anderer Erfahrungen und Wissenssysteme einhergehen. Meine Frage, was Ingolan im Nomadengebiet als Kind und junge Frau gelernt habe, kann sie nicht beantworten. Im Kontext ihres städtischen Lebens bedeutet Lernen schulisches Lernen, anderes Wissen ist nicht erwähnenswert. Als ich weiter darauf beharre, dass sie doch sicher etwas gelernt haben müsste, antwortet Ingolan wie folgt:

„Ich habe nichts gelernt. Ich bin nicht zu einer Alphabetisierungsklasse gegangen, aber ich habe versucht, eine Spargruppe zu gründen. Aber das Geschäft, das ich jetzt betreibe, läuft nicht mehr so gut wie vorher, so dass ich das wieder aufgegeben habe. Vor einiger Zeit habe ich mich einer Gruppe in Lokiriama angeschlossen… Die Leute (von einer NGO, US.), die dort geblieben sind, haben beschlossen, dass wir Geld einzahlen können, und am Ende des Jahres können wir einen Teil unserer Ersparnisse mitnehmen, also habe ich dieses Jahr damit angefangen. Es nennt sich Table Banking.“ (Interview mit Ingolan, 21.9.2021)

Lernen und Wissen werden von Ingolan mit Schulen, NGOs und Entwicklung verbunden. Dabei zeigt Ingolans eigene Geschichte, dass ihre Sozialisation im Nomadengebiet und ihre Tätigkeit im informellen Sektor für das Überleben in Lodwar dienlicher war, als der Schulbesuch ihrer Geschwister und auf welch wackligen Füßen Zukunftsperspektiven, die auf den schulischen Erfolgen der Kinder basieren, stehen. Auf meine Frage, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen ist, antwortet Ingolans Mutter Awoi:

„In den vergangenen Jahren ist eigentlich nichts Schlimmes passiert, wenn nicht die Krankheiten wären, die mich beunruhigen. Einer meiner Jungs, der zur Schule ging, hat nach seinem Abschluss einen Job im Gefängnis bekommen, aber er unterstützt mich nicht. Die anderen haben die Schule abgebrochen… Zwei von ihnen sind in Napetet. Ihre Arbeit besteht darin, Alkohol zu trinken. Sie sind Trunkenbolde, die den ganzen Tag trinken. Sie können nicht einmal 50 oder 20 Schilling mitbringen. Das ist ein Problem. Ingolan ist die Einzige, die mir hilft. Sie ist wie mein Ehemann, sogar diese Kleider hat sie gekauft.“ (Interview mit Awoi, 26.8.2018)

Die wichtige Rolle, die Ingolan in ihrer Familie einnimmt (sie kümmert sich auch um einige Kinder ihrer Geschwister), ist beiden bewusst. Selbstbewusst managt sie ihr Geschäft und ist das Zentrum der erweiterten Familie. Sie erklärt dies aber nicht mit ihrem Großwerden im Nomadengebiet, sondern mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Rang in der Geschwisterfolge und ihrem Geschlecht und erklärt: „Wenn ich zur Schule gegangen wäre, würde unser Haus leuchten.“ (Interview mit Ingolan, 21.9.2021)

Veränderungen und Kontinuitäten: Schulbildung als Armutsfalle?

Die Geschichten von Longor, Rebecca und Awoi verdeutlichen nicht nur, dass es während der Zeit meiner Abwesenheit zu großen Veränderungen gekommen ist, sondern auch dass Kontinuitäten bestehen, die tief verwurzelte strukturelle Ungleichheiten widerspiegeln. Dies ist insbesondere bei den Turkana zu beobachten, die von Vigdis Broch Due & Todd Sanders (1999) als maskini bezeichnet werden. In der von mir in meiner Doktorarbeit vorgenommenen Kategorisierung ist dies sowohl für die Gruppe von Frauen, die ihre Migration aus dem Nomadengebiet als Übergangslösung betrachteten, als auch für die Gruppe von städtischen Armen (Migration als letzter Ausweg), deren Beziehungen zum Nomadengebiet schon Anfang der 1990 Jahre prekär oder bereits nicht mehr von Bedeutung waren, der Fall. Für diese Gruppen ist das Leben gleichförmig verlaufen. Sie leben weiter vom informellen Sektor Lodwars, der nicht viel abwirft, oder wie das verbotene Bierbrauen mit hohen Risiken behaftet ist. Zudem sind sie weiter von humanitärer Hilfe abhängig oder sind Teil eines Social Cash Transfer Programms geworden, die es seit einigen Jahren für besonders vulnerable Gruppen wie z.B. ältere Menschen gibt. Einige Frauen wie z.B. Asuchon, Lele und Arupe sind aus ihren Manyattas vertrieben worden und mussten sich an anderer Stelle ansiedeln. Meine Beobachtungen verweisen darauf, dass Frauen wie Awoi, Asuchon, Arupe und Lele weniger mobil sind und nun fest in Lodwar verankert sind. Dies ist mit einer Häufung von Dürreperioden und langen Phasen, in denen die Nomadengebiete unsicher waren, zu erklären. Viele verarmte Turkana haben nun keine Beziehungen in das Nomadengebiet mehr und müssen ihr Handeln darauf einstellen. Sie entwickeln neue Aspirationen. Diese neue „capacity to aspire“ ist vom Entwicklungsnarrativ geprägt und zielt auf sozialen Aufstieg durch Schulbildung. Ingolans Erfolg im informellen Sektor führt nicht zu Anerkennung und Statusgewinn. Ihr Einkommen wird von den Kosten der Schulbildung für ihre Kinder absorbiert, ohne dass diese absehbar zu Anerkennung und Statusgewinn führen wird. Obwohl es Ingolan gelingt, ihre Mutter im Alter zu unterstützen, führt dies nicht zur kollektiven Anerkennung ihrer Leistung. Dies hat zur Folge, dass junge Menschen, die in der Stadt aufwachsen, ihre Aspirationen nicht auf städtische Einkommensmöglichkeiten im informellen Sektor oder Handwerk, sondern weiter auf schulische Erfolge richten. In diesem Kontext kann von einer Bildungsfalle gesprochen werden.

Es zeigt sich auch, dass die Fähigkeit zur Aspiration im Kontext meiner Gesprächspartner*innen ungleich verteilt ist. Ganz anders als Awoi muss Rebecca im Alter weiter für sich sorgen, auch wenn ihre Kinder schulische Erfolge verzeichnen können. Trotzdem blickt sie stolz auf ihre Lebensleistung zurück und erhält kollektive Anerkennung dafür. Ihre Kinder stellen die daraus resultierenden Verpflichtungen angesichts schlechter Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten auf dem formellen Arbeitsmarkt, die zu einer Abschlussinflation geführt haben, vor große Herausforderungen. Um eine gut bezahlte Arbeit zu finden, werden immer höhere Abschlüsse erwartet, so dass (Hoch-)Schulabgänger*innen oder ihre Eltern immer weiter und mehr in Bildung investieren müssen. Wie im Fall von Vicky überlappen sich dabei die Bildungsverläufe von Kindern und Eltern. Vicky muss zur gleichen Zeit Geld für ihren Bachelorabschluss auftreiben und die Schulbildung ihrer Tochter finanzieren. Auch dies führt dazu, dass das Erwachsenenwerden aufgeschoben und junge Menschen sich in einer Wartehaltung befinden.

Auch Longors und Elims Geschichte zeigt, dass Bildungsaspirationen und die daraus resultierenden Verpflichtungen und Anstrengungen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Während für Longor die Schulbildung ihres Sohns eine Diversifikationsstrategie darstellte und ihre sozialen Beziehungen, Anerkennungsstrukturen und Aspirationen im Nomadengebiet verortet waren, manövriert Elim innerhalb beider Bereiche. Seine Geschichte zeigt, dass es schwierig ist, dies an die nächste Generation weiterzugeben. Durch die Internatsunterbringung und die hohen Leistungsanforderungen an die Schüler*innen wird es immer schwieriger, Schulbildung mit einer Übermittlung des Wissens und der Fähigkeiten zu vereinbaren, die für die mobile Viehwirtschaft unerlässlich sind. So können z.B. soziale Beziehungen im Nomadengebiet nicht mehr gepflegt werden, wenn Kinder nicht mehr Turkana sprechen.

Westliche Schulbildung führt angesichts der wirtschaftlichen Lage Kenias und der Marginalisierung der Turkana innerhalb des Nationalstaates nicht nur viele junge Menschen, sondern ganze Familien in eine Sackgasse. In vielen Familien werden bewährte Diversifikationsstrategien aufgegeben und alles auf eine Karte – Schulbildung – gesetzt. Dies wiederum untergräbt die Bedingungen, die in vielen Fällen zum Erfolg von Schulkarrieren geführt haben. Immer weniger Familien können auf Ressourcen in der mobilen Viehwirtschaft zurückgreifen und von Zeit zu Zeit Vieh verkaufen, um einen kontinuierlichen und erfolgreichen Schulbesuch ihrer Kinder zu gewährleisten. Diese Entwicklung geht einher mit einer Inflation von Abschlüssen und einem Wettbewerb von Schulen auf einem privaten Bildungsmarkt, bei dem viele Turkanafamilien nicht mithalten können.

Es kommt damit zu einem immer stärkeren Auseinanderklaffen von Aspirationen, die sich verstärkt auf westliche Schulbildung und den formalen Arbeitsmarkt richten, und den Möglichkeiten und Chancen, die sich jungen Turkana und ihren Familien innerhalb des Bildungssystems und auf dem Arbeitsmarkt bieten. Einzelne erfolgreiche (Hoch-)Schulabgänger*innen sind mit hohen Erwartungen und vielen Verpflichtungen konfrontiert, die es schwer für sie machen, ihren Erfolg an die nächste Generation weiterzugeben. Auch deshalb halte ich es für angemessen, zu sagen, dass die Menschen, deren Leben ich über viele Jahre begleitet habe, in eine Bildungsfalle geraten sind.

Literatur

Aklilu, Jacob, & Mike Wekesa (2002): Drought, Livestock and Livelihoods: Lessons from the 1999-2001 Emergency Response in the Pastoral Sector in Kenya. Humanitarian Practice Network (HPN), Overseas Development Institute, London.

Appadurai, Arjun (2013): The Future as Cultural Fact. London & New York, US-NY.

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Anschrift der Autorin:
Ulrike Schultz
Ulrike.Schultz@thh-friedensau.de

https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i2.03

Dieser Beitrag wurde im „double-blind peer-review“-Verfahren begutachtet.


 

[1]       Ich habe mich entschieden in diesem Artikel die Namen meiner Gesprächspartner*innen zu anonymisieren und ihnen neue Namen zu geben, obwohl ich dies in meiner Doktorarbeit nicht gemacht habe.

[2]       Die Turkana nennen ihre Kinder nach einer ihnen nahestehenden Person oder nach jemandem, der zur Zeit der Geburt des Kindes eine wichtige Rolle im Leben der Familie eingenommen hat. Das Geschlecht der Person spielt dabei keine Rolle. Der „Name“ des Kindes wird Teil der Familie und hat Verpflichtungen gegenüber dem Kind, seinen Eltern, Geschwistern und anderen nahen Verwandten.

[3]       Manyatta werden die aus Palmwedeln, Gräsern oder Holz gebauten Hütten genannt.

[4]       Stadtteil von Lodwar.

[5]       Europäer*in bzw. Weiße*r.

[6]       Stadtteil von Lodwar.

[7]       Rebecca verweist hier auf die Devolution (Dezentralisierung), bei der den Regierungen der counties 2010 durch eine neue Verfassung in Kenia mehr finanzielle Eigenständigkeit übertragen wurde.

Die counties sind eine geografische und politische Einheit. Sie ersetzten mit der neuen Verfassung als Einheiten einer dezentralen Verwaltung die bisherige Aufteilung in Provinzen und Distrikte.

[8]       Ende der 1990er Jahre lebten ca. 80.000 Geflüchtete im Camp, https://rse.anu.edu.au/sites/default/files/2020-05/walker-paper-2019.pdf, letzter Aufruf: 22.11.2023.

[9]       s. Fußnote 7, S. 267

[10]      Häberlein & Maurus 2020: 570; Dungey & Ansell 2020: 616; Maurus 2016; Laube 2016: 15.

[11]      Suaheli-Wort für Arme.

[12]      Während dieser Dürreperioden (die Turkana nennen sie „Logara“) starben nach Schätzungen von Jacob Aklilu & Mike Wekesa (2002: 2) 43 % des Kleinviehs, das besonders für ärmere Turkana Hauptbestandteil ihrer Herden ist (Broch Due & Sanders 1999: 40).