Was für einen Staat wünscht sich die EU in der Türkei?

Nicht nur demokratisch, auch neoliberal muss er sein

in (08.06.2004)

In der Wissenschaft sowie in den Medien wird der mögliche EU-Beitritt der Türkei einerseits hinsichtlich kultureller Unterschiede und andererseits hinsichtlich der Anpassungsfähigkeiten der ...

Einleitung

In der Wissenschaft sowie in den Medien wird der mögliche EU-Beitritt der Türkei einerseits hinsichtlich  kultureller Unterschiede und andererseits  hinsichtlich der Anpassungsfähigkeiten der Türkei an die  politischen Kriterien der EU diskutiert. Bei dem ersteren wird die christliche Tradition der europäischen Zivilisation zu einem wichtigen Beitrittskriterium. Bei dem letzteren Argument erscheint das Bild, als ob es sich bei der EU nur um ein demokratieförderndes Projekt handelt. In dieser Diskussion werden die demokratischen Grenzen des türkischen Staates als Beitrittshindernis  betrachtet. Auf der Agenda stehen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, kulturelle Rechte und die zivile Kontrolle über das Militär. Die Fortschritte in diesen Bereichen werden in den Berichten der Europäischen Kommission als eine Annäherung an die europäischen Kriterien begrüßt. Damit bleibt die Debatte um die Transformation des Staates nur auf den Aspekt der Demokratisierung beschränkt.

Jedoch bedeuten die durch die EU-Mitgliedschaftsperspektive angetretenen Reformprozesse mehr als die Demokratisierung des türkischen Staates. Die EU-Einbindung der Türkei beruht auf dem Export einer "marktradikalen" Variante des Neoliberalismus (für die Länder des Mittelosteuropas (MOE) vgl. Bohle 2002). Im Gegensatz zu den MOE-Ländern fing das Projekt der Neoliberalisierung der Türkei jedoch schon 1980 an. Getragen von Bretton-Woods-Institutionen hat die inländische Bourgeoisie die Neoliberalisierung der Ökonomie und damit die Transformation des Staats beschleunigt. Ende der 90er Jahre geriet die Ökonomie in die Krise, so dass der neoliberale Strukturwandel neu formuliert werden musste. Hierbei nahmen die institutionellen Reformen unter dem Stichwort "governance" die Vorreiterrolle für die Sicherung des Strukturwandels der Ökonomie ein.

Die institutionellen Reformen des Staats wurden in der Türkei unter der EU-Perspektive beschleunigt. Die Türkei erhielt 1999 auf dem Gipfel von Helsinki den Status als Beitrittskandidat. Durch die Beitrittspartnerschaft, die 2001 in Kraft getreten ist,  hat der Integrationsprozess der Türkei an die EU neuen Schwung bekommen. Die Transformation des Staats in der Türkei, die unter der EU-Aufsicht durchgesetzt werden, betreffen nicht nur die politische Ebene des Staates, sondern ebenso die politische Ökonomie des Landes. Um dies zu zeigen, wird im ersten Teil die Neoliberalisierung in der Türkei seit 1980 dargestellt, um in den nächsten beiden Kapitel die durch die EU herangeführte Transformationsprozesse zu skizzieren.

Die Politische Ökonomie des Staates in der Türkei seit 1980

Das Jahr 1980 markiert einen wichtigen historischen Wendepunkt  der Türkei auf dem Weg zu einer neoliberalen Ökonomie. Ein orthodoxes Strukturanpassungsprogramm unter der Aufsicht der Bretton-Woods-Institutionen leitete den Übergang zu einer liberalen und exportorientierten Wachstumsstrategie ein. Trotz des neoliberalen Diskurses, der in der staatlichen Regulation den Ursprung aller ökonomischen sowie gesellschaftlichen Übel sieht, begleiteten staatliche Aktivitäten den Strukturwandel der Ökonomie. Die hohen Wachstumsraten in den 1980er Jahren konnten ohne staatliche Interventionen nicht ermöglicht werden (Ataç 2003): Der wachstumstragende Exportsektor wurde einerseits durch geldpolitische Maßnahmen andererseits durch Subventionen und Fördermaßnahmen direkt vom Staat unterstützt. Zudem übernahmen in der Periode die Investitionen des öffentlichen Sektors die führende Rolle. Der Rückgang der Reallöhne um 40 Prozent in acht Jahren erhöhte die Wettbewerbsfähigkeit der Exportfirmen, was wiederum nur durch die Restriktionen der Gewerkschaftsaktivitäten während und nach der Militärregierung ermöglicht werden konnte (Boratav et al. 2000). Das Wirtschaftswachstum in den 80er Jahren basierte somit auf der Förderung der Wirtschaft  durch staatliche Förderungen und Investitionen. Die Reformen der Bürokratie und des Staates hatten nicht den Rückzug des Staates aus der Ökonomie zur Folge, sondern die Restrukturierung seiner Funktionen.

Die Transformation des Staates erlebte in den 90er Jahren mit dem Scheitern der exportorientierten Entwicklungsstrategie und der Veränderung der Akkumulationsbasis eine neue Wende. Mit der vollständigen Liberalisierung der Kapitalmärkte im Jahr 1989 kam es in den folgenden Jahren zur Bildung eines finanziellen Akkumulationsregimes, in dessem Zentrum die internationalen Kapitalzuströme für die Finanzierung der Staatsverschuldung standen. Hochzinspolitik,  Binnenverschuldung des Staates und instabile Wachstumsraten bildeten die Merkmale der Ökonomie in den 1990er Jahren.

Die Deregulierung der Finanzmärkte war in den 90er Jahren von einer Re-Regulation begleitet, in deren Zentrum die Fiskal- und Verschuldungspolitik des Staates stand. Die öffentliche Verschuldung des Staates und damit der Anteil des Kreditbedarfs der öffentlichen Hand am BIP stieg kontinuierlich. Der Staat nahm hiermit regulative Funktionen wahr, indem er das Akkumulationsregime und die Verteilung des Mehrwerts über die Verschuldungsdynamik bestimmte (Yeldan 2001). Die Verschuldungsdynamik des Staates, die Steuerpolitik sowie die staatlichen Monopole gewährleisteten den Einkommenstransfer auf der vertikalen Ebene von Lohnabhängigen zu Kapitalbesitzer und auf der horizontalen Ebene vom produktiven zum finanziellen Sektor. Die Wirtschaftspolitik bestand darin, eine glaubwürdige Politik der hohen Finanzrendite zu betreiben, anstatt eine Wachstums- und Beschäftigungspolitik zu fördern.

Die türkische Ökonomie sollte durch die neoliberale Integration in die Weltökonomie ihre Konkurrenzfähigkeit erhöhen und Direktinvestitionen anziehen, um das Wachstum und die Stabilität der Ökonomie zu gewährleisten. Die 1990er Jahre gelten jedoch als verlorene Dekade in der Türkei, die in eine Reihe von Finanzkrisen mündete (Atac 2003). In der Dekade konnte die Türkei entgegen den Erwartungen kaum Direktinvestitionen anziehen. In den beiden Jahrzehnten etablierte sich in der Türkei ein "wilder Neoliberalismus" ohne  Herausbildung neuer Governance-Institutionen und Stabilität. Dieser war von einer Informalisierung der Ökonomie und Politik begleitet.

Die Entwicklungen in der Türkei bilden in mehrerer Hinsicht ein Musterbeispiel für die Umstrukturierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie in den semiperipheren Ländern. In den 1990er Jahren bildeten Finanzkrisen in mehreren "emerging markets", in denen eine vom "Washington Consensus" diktierte neoliberale Entwicklungsweise herrschte, die Normalität der Entwicklung. Jedoch brachten die Finanzkrisen, das zunehmende Staatsdefizit und die fehlende institutionelle Anbindung des Neoliberalismus den "Washingtoner Konsensus" zunehmend in den Mittelpunkt der Kritik. Dies führte zur Entstehung eines neuen Diskurses über den Staat, der nach der Phase der neoliberalen Kritik neu definiert wurde. Die Weltbank machte bereits in ihrem 1997 veröffentlichten Bericht auf die neue Rolle des Staates aufmerksam, indem sie eine neue Aufwertung des Staates mit dem Begriff des efficient state propagierte (Weltbank 1997). Im neuen Staatsdiskurs soll sich die staatliche Politik an Effizienzkriterien messen lassen, insbesondere inwieweit sie auf nationalstaatlicher oder regionaler Ebene in der Lage ist, Wettbewerbsfähigkeit herzustellen (vgl. Brand 2003).

Die Trennung der Politik von der Ökonomie bildet in den neuen Staatsdiskursen immerhin den zentralen Punkt der Diskussionen. Ein besonderer Merkmal dieses Diskurses in der Türkei bildet die Behandlung von ökonomischen Problemen aus einem "technischen" Blickwinkel. Für eine Ökonomie der Wettbewerbsfähigkeit wird jedoch wiederum ein orthodoxes neoliberales Programm dargelegt, in dem dem Staat eine neue Funktion zukommt. Die klassischen Ecksteine eines neoliberalen Programms kommen hier vor: Für eine wettbewerbsfähige Ökonomie sollen alle staatlichen Unternehmen privatisiert, die Sozialversicherung und der Agrarsektor umstrukturiert werden. Der "regulierende Staat" soll durch neue Reformen die Ökonomie begleiten, statt zu intervenieren. Die Reformen orientieren sich dabei zum einen an den öffentlichen Infrastruktureinrichtungen wie Energie, Verkehrspolitik und Telekommunikation. In diesen Bereichen sollen unabhängige Regulierungsbehörden eine markteffiziente Lösung der Probleme voranbringen. Zum anderen steht im Zentrum der Umstrukturierung des Staats eine umfassende Verwaltungsreform.

Die Privatisierung- und Deregulierungsmaßnahmen bilden wesentliche Aspekte der türkischen Staatsreform, die mit der Zollunion und Heranführungsstrategie von der EU mitgetragen werden.

Die selektive Einbindung der Türkei in die EU durch die Zollunion

Die Türkei ist der einzige Beitrittskandidat, welcher mit dem Binnenmarkt der EU seit 1996 in Form einer Zollunion verbunden ist. Die Zollunion geht auf  das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Türkei zurück, welches 1964 in Kraft trat. Die Assoziierung beruhte auf einem Drei-Stufen Modell, welches einen Zeitplan für den stufenweise Abbau der gegenseitigen Zölle bis zur Errichtung einer Zollunion 1995 vorsah und gleichzeitig die Annäherung der türkischen an die gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik beinhaltete. Neben diesen Schritten bildeten Finanzhilfen, die der Türkei für die Durchführungsmaßnahmen und die Anpassungskosten zur Verfügung gestellt wurden, einen Bestandteil des Abkommens (Türkay 2002). Die Assoziierung selbst stellte bereits die Möglichkeit der Aufnahme der Türkei in die EU in Aussicht. In Artikel 28 des Assoziationsabkommens heißt es: "Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen." (zit. nach Jacobs 2000).

Die Zollunion der Türkei mit der EU trat mit einem Jahr Verzögerung am 1. Januar 1996 in Kraft. Sie sah Regulierungen in drei Hauptbereiche vor. Erstens beruhte die Zollunion auf dem freien Warenverkehr bei industriellen Gütern. Zentral war die Abschaffung sämtlicher Zölle und ähnlicher Abgaben im Warenverkehr zwischen der EU und der Türkei. Zweitens übernahm die Türkei den EU-Außenhandelzolltarif gegenüber Drittländern. Damit sind die von der EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Handelspolitik mit Drittstaaten abgeschlossenen Abkommen auch für die Türkei geltend. Schließlich verpflichtete sich die Türkei zur Übernahme der gemeinschaftlichen Handelspolitik und die Angleichung türkischer Rechtsvorschriften. Unter anderem hat sie die Wettbewerbsregelung der EU adaptiert, eine Wettbewerbsbehörde gegründet, die europäische Regelung zum Schutz des geistigen Eigentums übernommen und ein Patentinstitut im Einklang mir den EU-Standards ins Leben gerufen.

Seit Beginn der Zollunion ist ein kontinuierliches Wachstum des Handelsvolumens zwischen der EU und der Türkei festzustellen. Es nahm im ersten Jahr von 28 Mrd. auf 35 Mrd. US-$ zu. 2000 lag es bei über 41 Mrd. US-$. Eine unmittelbare Auswirkung der Zollunion auf die türkische Ökonomie ergibt sich aus dem Wegfall sämtlicher Einfuhrabgaben. Die Zolleinnahmenverluste im ersten Jahr der Zollunion betrugen 3,2 Mrd. US-$, die zu einem höheren Budgetdefizit und damit zur Erhöhung der Staatsverschuldung beitrugen. Im Rahmen der Zollunion wurde für einen Ausgleich der finanziellen Verluste der Türkei Finanzhilfen zugesagt, die dann durch eine Resolution des Europäischen Parlaments durch das Veto von Griechenland blockiert wurden.

Die Zollunion führte zu einem wachsenden Handelsbilanzdefizit der Türkei gegenüber der EU. Während das türkische Export/Import Verhältnis im Handel mit der EU zwischen den Jahren 1993 und 1995 durchschnittlich 67 Prozent betrug, fiel diese Zahl von 1996 bis 2000 durchschnittlich auf 55 Prozent. Einen weiteren Nachteil für die Türkei ergibt sich aus dem Umstand, dass die Zollunion sich auf die industriellen Güter beschränkte. Der Agrarsektor, der 14 Prozent, sowie Dienstleistungen, die 60 Prozent des BIP in der Türkei ausmachen,  blieben vom freien Warenverkehr ausgeschlossen. Dies führte zum Umstand, dass die Zollunion nur für 26 Prozent der in der Türkei produzierten Waren gültig ist. Insbesondere der Agrarsektor, in dem die türkische Ökonomie erhebliche Wettbewerbsvorteile gegenüber der EU hat, ist von der Zollunion ausgeschlossen. Ebenso wurde die Freizügigkeit der türkischen ArbeitnehmerInnen, die nach der Assoziationsvereinbarung spätestens bis zum Jahr 1986 hergestellt werden sollte, ausgeklammert.

Trotz dieser Nachteile erhoffte das türkische Kapital und die türkische Regierung von der wirtschaftlichen Integration mit der EU gewisse Vorteile. Erstens sah die türkische Regierung die Zollunion als eine Übergangsphase zur Vollmitgliedschaft in die EU. Zweitens bedeutet die Anerkennung des offiziellen Kandidatenstatus der Türkei ein Signal an die internationalen Märkte, dass sich die wirtschaftliche Situation in der Türkei stabilisieren würde. Dadurch sollte sich die türkische Wirtschaft in die internationale Märkte langfristig integrieren und ihren Anteil an ausländischen Investoren erhöhen. Weiterhin erwartete das Exportkapital einen Exportschub in die EU, insbesondere nach der Aufhebung der früheren Einfuhrquoten für türkische Textilien.

Die Zollunion bildet in dieser Form eine einzigartige Situation, in der ein Nichtmitglied durch ein Wirtschaftsabkommen mit der EU verbunden ist. Bislang konnten alle Staaten, die der EG bzw. der EU beitraten, zunächst  für eine Übergangsfrist die Nachteile der Zollunion durch die Nutzung verschiedener Fonds angleichen. Die Türkei erhielt jedoch diese Unterstützung für die Anpassung an die Wettbewerbsbedingungen in der EU nicht. Außerdem wurde die Türkei nicht in die Brüsseler Entscheidungsprozesse eingebunden, sondern muss sich einseitig an die wirtschafts- und handelspolitischen Entscheidungen der Union anpassen. Dies führt zu einem Souveränitätsverlust der Türkei im Bereich der Außenwirtschaft. Die Zollunion ist damit Ausdruck asymmetrischer Machtbeziehungen zwischen der EU und der Türkei. Dieses asymmetrische Verhältnis ist ebenfalls kennzeichnend für die Heranführungsstrategie, die Thema des nächsten Kapitels ist.

Handelsbilanz der Türkei mit der EU

in Mrd. US-$

Jahr

Ausfuhr in EU

Veränderung in Prozent

Einfuhr aus EU

Veränderung in Prozent

Ausfuhr/Einfuhr

1993

7.599

---

13.875

---

54,8

1994

8.635

13,6

10.915

-21,3

79,1

1995

11.078

28,3

16.861

54,5

65,7

1996

11.549

4,3

23.138

37,2

49,9

1997

12.248

6,1

24.870

7,5

49,2

1998

13.498

10,2

24.075

-3,2

56,1

1999

14.348

6,3

21.401

-11,1

67,0

2000

14.510

1,1

26.610

24,3

54,5

Quelle: DTM - Undersecretariate of the Prime Ministry for Foreign Trade (www.foreigntrade.gov.tr)

Die Heranführungsstrategie

Die Türkei erhielt auf dem Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 den Status des Beitrittskandidaten, ohne dass ein konkreter Beitrittstermin genannt wurde. Der Europäische Rat kam dabei zu dem Schluss: "Die Türkei ist ein beitrittswilliges Land, das auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen Länder gelten, Mitglied der Union werden soll. Auf der Grundlage der derzeitigen europäischen Strategie soll der Türkei wie den anderen beitrittswilligen Ländern eine Heranführungsstrategie zugute kommen, die zu Reformen anregen und diese unterstützen soll." (Europäische Kommission 2003: 4) In den weiteren Monaten gewannen die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei an Dynamik. Die Türkei ist wie alle übrigen Bewerberländer in die sog. "Heranführungsstrategie" der EU einbezogen. Diese Strategie löste einen Anstoß für einen ökonomischen und politischen Reformprozess in der Türkei aus.

Die Heranführungsstrategie bildet ein komplexes Dispositiv, das aus unterschiedlichen Herrschaftsmechanismen des Aufschubs, der Prüfung und der Kontrolle durchdrungen ist. Einen wichtigen Teil der Heranführungsstrategie bildet die Verabschiedung eines Beitrittspartnerschafts-Abkommens seitens der Kommission auf der Grundlage der Kopenhagener Kriterien. In der Beitrittspartnerschaft werden Grundsätze, Prioritäten, Zwischenziele und Bedingungen, die dem Bewerberland unterbreitet werden, dargelegt. Die Gemeinschaft sieht die Beitrittspartnerschaft als ein Instrument der Unterstützung und Hilfe des Bewerberlandes. "Der Europäische Rat beschloss auf seiner Tagung in Luxemburg im Dezember 1997, dass die Beitrittspartnerschaft den Schwerpunkt der intensivierten Heranführungsstrategie bilden soll und dass mit diesem Instrument alle Formen der Unterstützung für die Bewerberstaaten in einem einzigen Gesamtrahmen zum Einsatz kommen sollen. Auf diese Weise richtet die Gemeinschaft ihre Hilfe gezielt auf die besonderen Bedürfnisse der einzelnen Bewerberstaaten aus, um sie im Hinblick auf den Beitritt bei der Bewältigung spezifischer Probleme zu unterstützen." (Amtsblatt der Europäischen Union 2003) Dabei werden für jedes Bewerberland die Prioritäten flexibel "im Hinblick auf seine Fähigkeit" ausgewählt, damit dieses die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen kann.

Einen wichtigen Bestandteil der Beitrittspartnerschaft bilden die finanzielle Hilfen, u.a. das finanzielle Heranführungshilfeprogramm. Im türkischen Fall ist die Umsetzung dieses Programms parallel zu denen des Programms PHARE angelegt. Dieses Programm unterstützt "den Aufbau von Institutionen und stellt Investitionen zur Stärkung der für Gewährleistung der Einhaltung des Besitzstandes notwendigen rechtlichen Infrastruktur (...)" (Europäische Kommission 2003) bereit. Seit dem Anfang des Programms ist die Finanzhilfe der EU an die Türkei aufgestockt worden. Die Finanzhilfe wird hauptsächlich für Maßnahmen für die Annäherung an den Besitzstand und für die Stärkung der öffentlichen Verwaltung angewendet. Beispiele dafür sind technische Hilfe und Investitionen zur Verbesserung der Marktaufsicht oder im Bereich "Justiz und Inneres" zur Verbesserung der Visumspolitik und -verfahren. Mit den finanziellen Hilfe beabsichtigt die EU, insbesondere die Verwaltungsreformen mit Hilfe von Partnerschaften zu gestalten und zu beschleunigen (vgl. Bohle 2003: 154).

Die Beitrittspartnerschaft bestimmt die Prioritäten und organisiert die verfügbaren Finanzmittel, mit denen der Türkei für die Umsetzung der Beitrittskriterien die Bedingungen diktiert werden. Die erste Beitrittspartnerschaft für die Türkei wurde im März 2001 beschlossen, eine überarbeitete Version wurde im Mai 2003 vom Rat angenommen. Im Gegenzug hatte das Bewerberland auf der Grundlage der Beitrittspartnerschaft ein entsprechend nationales Programm zur Übernahme des Besitzstandes zu entwickeln, was die türkische Regierung am 19. März 2001 verabschiedete. Dieses Programm wurde umfassend vorbereitet und war im türkischen Fall mehr als 500 Seiten lang. Es umfasst Angaben über das geplante Vorgehen im Rahmen der Beitrittspartnerschaft, einen Zeitplan für die Erfüllung der Aufgaben sowie Angaben zu den erforderlichen personellen und finanziellen Mitteln. Im Juli 2003 wurde von der türkischen Regierung ein überarbeitetes Nationales Programm angenommen. Beide Programme enthalten eine umfangreiche Agenda politischer und wirtschaftlicher Reformen.

Die Beitrittspartnerschaft und das Nationale Programm werden regelmäßig überprüft und überarbeitet, um den "Fortschritten" Rechnung zu tragen und neue Prioritäten festzusetzen. Dabei kommt den sog. "Regelmäßigen Berichten über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt" der EU-Kommission  eine wichtige Funktion zu. Im Rahmen der Heranführungsstrategie berichtet die Kommission dem Rat alljährlich über die Fortschritte jedes Bewerberlandes bei dessen Vorbereitung auf die Mitgliedschaft, wobei die Kopenhagen-Kriterien als Bewertungsgrundlage dienen. Das erste Kriterium betrifft die institutionelle Stabilität der Beitrittskandidaten, im allgemeinen Sinne die demokratische und rechtstaatliche Ordnung zu gewährleisten. Das zweite Kriterium gilt der funktionsfähigen Marktwirtschaft der Beitrittsländer sowie deren Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Das dritte Kriterium testet die Fähigkeit der Länder, die aus der Mitgliedschaft erwachsenen Verpflichtungen zu übernehmen. Die Kopenhagener Beitrittskriterien sind allerdings sehr allgemein formuliert, so dass sich der Maßstab für die Erfüllung dieser Kriterien je nach Land  ändert. Dies stattet die EU mit einem Ermessenspielraum aus, welchen sie nutzen kann und tut (Bohle 2002: 362).

Neben der Umsetzung des Besitzstands der Europäischen Union in innerstaatliches Recht der Beitrittsländer besteht der Rat auf die Umstrukturierung der Verwaltungsstrukturen noch vor dem Beitritt. Damit müssen die Beitrittsländer schon vor dem Beitritt erhebliche Anstrengungen unternehmen, um ihre Verwaltungs- und Justizstrukturen auszubauen und reformieren. Die Beitrittspartnerschaft hat die Funktion, dies finanziell zu ermöglichen und dies individuell je nach den Bedürfnissen und Prioritäten des beitrittswilligen Lands zu gestalten. Die Union beabsichtigt damit über die Angleichung der Rechtsvorschriften hinaus "(...) die Steigerung der für die Um- und Durchsetzung des Besitzstands erforderlichen Leistungsfähigkeit der Justiz- und Verwaltungsbehörden" (Europäische Kommission 2003). Im Fall der Türkei, die noch keinen Termin für den Beginn der Verhandlungen bekommen hat, verschärft diese Vorgehensweise, die Asymmetrie zwischen der Türkei und der EU.

Der neoliberale Umbau in der Türkei

Wie in den Beitrittskandidaten aus MOE nutzt die EU in der Türkei ihren Einfluss, um die Kernbereiche ihres Deregulierungsprogramms zu exportieren (Für MOE-Länder vgl. Bohle 2002), was der Fortschrittsbericht deutlich macht. So werden in den regelmäßigen Berichten einerseits die Deregulierungsmaßnahmen in den Märkten für Tabak, Elektrizität, Telekommunikation und Gas seitens der EU gelobt. Die Reform der Sozialversicherung wird begrüßt und die Kommission betont die Wichtigkeit der Durchführung des mit IWF und Weltbank vereinbarten Inflationsbekämpfungs- und Strukturreformprogramms, unter besonderer Berücksichtigung der Kontrolle und Reduzierung der Staatsausgaben.

Andererseits sprechen die Berichte in ihrer Mängelliste eine klare Sprache, dass die Beschleunigung der Privatisierung und die Verabschiedung der Gesetze für die Deregulierung die Kernelemente der EU-Forderungen bilden. So wird die türkische Regierung in den Berichten kritisiert, dass bei der Privatisierung der Industrie und Landwirtschaft nur in begrenztem Umfang Fortschritte erzielt wurden. Auch werden erhebliche Anstrengungen für die Liberalisierung des Marktes für Postdienste eingefordert und das staatliche Monopol für Tabak wird dabei als "ein erhebliches Problem" kritisiert. Für die Umstrukturierung des Bankensektors wird von der EU die Beschleunigung der Privatisierung der staatlichen Banken und Unternehmen und die Deregulierung des Marktes verlangt. Die Fortsetzung der Agrarreformen und der Marktliberalisierung bilden die kurzfristigen wirtschaftlichen Prioritäten der Beitrittspartnerschaft. Mittelfristig wird von der Türkei erwartet, dass sie den Privatisierungsprozess und den Reform des Finanzsektors abschließt und den Reform des Agrarsektors fortsetzt, noch bevor die eigentlichen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen.

Im Bericht gibt sich die Kommission mit der Maßnahmen für die Rechtsangleichung des "Acquis communautaire" zufrieden, kritisiert jedoch die Ressourcen für die Umsetzung und Durchführung der EU-Vorschriften. Dafür werden noch erhebliche Anstrengungen im Verwaltungsbereich, insbesondere für die Umsetzung und Durchsetzung des Acquis die Stärkung der Verwaltungskapazität erwartet. Hierbei bildet die weitere Entwicklung der Marktregulierungsbehörden einen wesentlichen Aspekt für die Regulation der deregulierten Ökonomie. Die Sicherung der Unabhängigkeit der Marktregulierungsbehörden und die personelle sowie finanzielle Ausstattung wird als notwendig gesehen. Im Bereich der staatlichen Beihilfen und der Regionalentwicklung wird die Einrichtung einer neuen Struktur erwartet.

Insgesamt läßt sich feststellen, dass die EU ein bestimmtes Modell in die Türkei exportiert, in dessen Zentrum eine neoliberale Ökonomie steht. Dabei bilden die Veränderungen in den staatlichen Tätigkeiten einen ergänzenden Bestandteil der ökonomischen Neoliberalisierung. Das neoliberale Modell, welches sich auf der politischen Ebene auf den Rückzug des Staats beschränkte, erwies sich nach den häufenden Finanzkrisen in den 1990er Jahren als gescheitert. Das neoliberale Modell, welches die EU folgt, distanziert sich insofern von diesem Modell, da dieses die regulatorischen Instrumente unter dem Stichwort "governance" institutionalisieren will. Ob dieses neoliberale Modell langfristig eine nachhaltige Entwicklung voranbringen kann, ist jedoch zweifelhaft.

Schlußfolgerungen

Die Vertiefung der EU über Intensivierung der ökonomischen Kernprojekte, vor allem die Markt-, Währungsunion und die Finanzmarktintegration, führen zur Herausbildung eines neoliberalen Projekts innerhalb der EU (vgl. Beiträge in Beckmann et al. 2003). In der Erweiterung wird dieses Modell verschärft, indem über den rechtlichen Acquis communitaire hinaus weitere neoliberale Maßnahmen verlangt werden  ( vgl. Bohle 2003: 154). Die Türkei folgt insofern den gleichen Weg, als die EU über die Heranführungsstrategie als Katalysator für den neoliberalen Umbau der Ökonomie und die Transformation des Staats wirkt.

Türkei ist ein semiperipheres Land, deren Ökonomie seit Anfang der 1980er Jahre neoliberal umgebaut wird. Bis Mitte der 1990er Jahre waren die Bretton-Woods-Institutionen die internationalen Akteure der Neoliberalisierung in der Türkei. Seit der Zollunion mit der EU stärkt sich der Einfluss der EU in der politischen Ökonomie der Türkei. Die türkische Ökonomie hofft sich durch die EU-Integration ihre Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen und Direktinvestitionen zu ziehen, um das Wachstum und Stabilität ihrer Ökonomie zu sichern. Ob die Integration dies ermöglicht, oder zur weiteren Peripherisierung führt, bildet ein noch zu erforschendes Thema der politischen Ökonomie.

Literatur

Amtsblatt der Europäischen Union (2003): Beschluss des Rates vom 19. Mai 2003 über die Grundsätze, Prioritäten, Zwischenziele und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit der Türkei (2003/398/EG)

Ataç, Ilker (2003): Die Krise der neoliberalen Entwicklungsweise in der Türkei. In: Becker, Joachim et al. (Hg.): Geld Macht Krise. Finanzmärkte und neoliberale Herrschaft. Wien

Beckmann, Martin/ Bieling Hans-Jürgen./Deppe, Frank (Hg., 2003): "Euro-Kapitalismus" und globale politische Ökonomie, Hamburg

Bohle, Dorothee (2002): Erweiterung und Vertiefung der EU. Neoliberale Restrukturierung und transnationales Kapital. In: Prokla ,128, Juni 2002

Bohle, Dorothee (2003): Osterweiterung der EU - Neuer Impuls oder Rückschlag für die europäische Integration? In: Beckmann, Martin et al. (Hg.): "Euro-Kapitalismus" und globale politische Ökonomie. Hamburg

Boratav, Korkut/ Yeldan, A. Erinc/ Köse, Ahmet H. (2000): Globalization, Distribution and Social Policy: Turkey , 1980-1998. CEPA Working Paper Series I: Globalization, Labor Markets, and Social Policy, Working Paper No.20, New School University , New York

Brand, Ulrich (2003): Nach der Krise des Fordismus. Global Governance als möglicher hegemonialer Diskurs des internationalen Politischen. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Juni 2003

Europäische Kommission (2003): Regelmäßiger Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt

Jacobs, Adam S. (2000) Die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union und die Frage des türkischen EU-Beitritts. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 29-30 14./21. Juli 2000

Türkay, Mehmet (2002): Turkey`s Integration with the European Union. Modalities and Limitations. In: Balkan, N./Savran, S. (Hg.): The Politics of Permanent Crisis. Class, Ideology and State in Turkey. New York.

Weltbank (1997): Weltentwicklungsbericht 1997. Der Staat in einer sich ändernden Welt. Bonn

Yeldan, Erinc (2001): Küresellesme Sürecinde Türkiye Ekonomisi. Bölüsüm, Birikim ve Büyüme. Istanbul.